Transkription

20.9.21 [von anderer Hand zugefügt]

Sehr geehrter Herr Kolbe!

Durch dieses Schreiben
möchte ich Ihnen einen Gruß von Ihrer Assunta(1)
von der Lübecker nordischen Woche senden. Vielleicht
werden Sie diesen Brief eines Ihnen gänzlich Unbekann-
ten befremden. Mir persönlich hat es jedoch
immer Freude bereitet, wenn ich erkannte, daß von
einer meiner Arbeiten eine lebendige Wirkung
ausgegangen war, und im Hinblick auf dieses, mein
eigenes Empfinden habe ich meine Bedenken überwund-
den und mich entschlossen, Ihnen zu schreiben.

In dem kraftlosen Chaos der Ausstellungen hat

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Ihre Assunta in mir einen lebendigen Klang
geweckt, den ich seit langem erhofft und vermißt
habe. Diese Figur hat mein Gefühl zugleich mitgerissen
und mit Bewunderung erfüllt durch die Gesetzmäßig-
keit, mit der alle Mittel zum Ausdruck geworden
sind. Die innere Notwendigkeit jeder Form, jeder
Linie, die große Einfachheit und Klarheit ohne Leere
wirkt auf mich in ähnlicher Weise wie etwa die
Bach(2)sche Musik. Hier ist lebendiges Symbol,
absolute Form und doch entmaterialisierte Form.

In Ihrer Arbeit gibt es nicht Zufälliges, alles ist
notwendig: das Bronzematerial selbst, welches
die Formen zusammenfaßt und die Linie unter-
streicht, während der Marmor die Oberfläche zu

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sehr auflösen und die Bewegung nicht als solche nicht
in gewünschter Weise unterstreichen würde, der flüchtige
Sockel, der die Füße trägt und von dem sie sich doch
loslösen, die r[h]ythmisch mitschwingende Mühe, die
klaren einfachen Formen, das schmale Becken, organisch
zu schmal, aber das Organische ist nicht Selbstzweck,
sondern Ausdrucksmittel, die unendlich feinfühlige
Haltung der Hände, die {in} sehnsüchtig erwartungsvollem
Willen emporgehobenen Schultern, das ruhige mädchen-
hafte Zöpfchen, mit den klaren herb-weichen hingebungs-
vollen Zügen. So ist Ihre Assunta ganz Form und
doch ganz Geist, erdgebunden und doch erdgelöst;
I in ihrer zwingenden Gesetzmäßigkeit sicherlich
kein Teilerlebnis, sondern im tiefsten Sinn der

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Ausdruck einer Sehnsuchtsform Ihres Wesens.
Ich kenne von Ihren anderen Arbeiten nur eine
Tänzerin(3), die mir in der Erinnerung das Gefühl einer
r[h]ythmisch-lebendig-reichen Körperlichkeit hinter-
ließ. Ich empfand beim Betrachten nicht das Zwingen-
de, nicht die Konzentration der Ausdrucksmittel
wie bei der Assunta, und das Organische erschien mir
zu sehr Selbstzweck. Ich selber habe in jahrelanger
einsamer Arbeit mit den Mitteln der Malerei
um diese Konzentration des Ausdrucks gerungen.

Es wäre mir sehr wertvoll, mehr von Ihrem Schaffen
zu erfahren.

In der Hoffnung, Ihnen in keinem Sinne störend
gewesen zu sein, bin ich mit den besten Grüßen
A. Beer

Seedorf in Lauenburg Bezirk Hamburg.

Anmerkungen

  1. Werk Georg Kolbes, "Assunta", 1919/1921

  2. Bach, Johann Sebastian (31.3.1685, Eisenach – 28.7.1750, Leipzig), Komponist, Kantor

    http://d-nb.info/gnd/11850553X
  3. Werk Georg Kolbes, "Tänzerin", 1911/12