Transkription

Seedorf/Lbg. [Lauenburg]

18. 12. 21.

Sehr geehrter Herr Kolbe!

Haben Sie herzlichen Dank für Ihre
freundliche Beantwortung meines Briefes!

Im vorigen Monat hatte ich die Freude,
Ihre Ausstellung bei Cassirer(1) zu sehen.

Neben der Assunta(2) hat mir Ihre große
sitzende Bronzegestalt(3)
einen starken Eindruck
gemacht. Jetzt nachdem ich eine größere
Anzahl Ihrer Arbeiten kenne, fühle ich in
der Assunta einen inneren Zusammenhang
mit Ihrer frühen Tänzerin(4) im Kronprinzen
Palais, sogar einen stärkeren Zusammenhang
als mit den späteren folgenden Werken,
denen sie wiederum der Sprache nach verwandt ist.

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Das Wie macht den Ausdruck, Der Künstler
stellt dar, was jeder mehr oder weniger
stark irgendwie erlebt und empfindet,
so hier wie er es empfindet und zwingt
die andern, durch sein Gefühl zu empfinden.
Der Eine überlegt durch ein eindringliches
leises Flüstern, der Andere durch ein lautes
bestimmtes Aussprechen {u.s.f.}; in der Sprache drückt
sich die Individualität des Künstlers aus.

Das Wesentliche erscheint mir das, durch
die Sprache ausgedrückte, starke Lebensgefühl
(dieses Wie des Lebensgefühls). In Ihrer
Tänzerin im Kronprinzen Palais empfinde
ich etwas von di[e]sem Lebensgefühl, aber
es ist noch nicht zur vollen Gestaltung
gebracht; Sie hatten damals Ihr Sprache
noch nicht gefunden. In den beiden schwebenden
Gestalten im Kronprinzen Palais sah ich ein
ungelöstes Suchen nach di[e]ser Sprache.

Ihre kleinen Plastiken bei Cassirer sind voller

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Kraft und Rhyt[h]mus, besonders die eine kleine
Tänzerin(5)
. Ich empfinde es als eine Art
Freudenrausch des Form Gefühls. In Ihrer
Assunta aber empfinde ich mehr, ein stärkeres
Lebensgefühl, eine Einheit von Gefühl und
Ausdruck. Die sitzende Frau ist kraftvoller,
sie hat der Assunta voraus, daß sie gedank-
lich unfaßbarer ist, aber die Assunta ist inni-
ger. Die große stehende männliche Figur(6)
wirkt auf mich nicht unmittelbar, ich empfand
sie zu sehr als Formabsicht. Ich bemerke aber
jetzt, daß mir ein starker Erinnerungseindruck
geblieben ist; daraus entnahm ich, daß irgend
etwas unterbewußt stärker auf mich gewirkt
haben muß als ich annahm. Ich vermute, daß dieses
mit der roten Farbe in Zusammenhang steht, die
der Figur eine eigenartig abgeschlossene
magische Abgeschlossenheit gibt. –

Haben Sie herzlichen Dank dafür, daß Sie mich auf diese

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Ausstellung aufmerksam machten. Ich schreibe
Ihnen von meinen Eindrücken, da ich Ihrem Brief
und Ihrer Vorrede im Katalog entnommen
sah, daß es auch Ihnen um Fühlung zu tun
ist „auf daß man nicht aneinander vorbeischaffe".
Leider [war] nur meine Zeit in Berlin so beschränkt, daß
ich Ihrer freundlichen Aufforderung, Sie in Ihrem Atelier
aufzusuchen, nicht Folge leisten konnte. –

Einen Irrtum muß ich noch berichtigen. Sie haben
in Ihrer Anschrift „Herr“ Beer statt „Frau“ Beer
gesagt. Ich muß gestehen, daß ich mit einer gewissen
Absichtlichkeit mit „A. Beer“ unterschrieben habe.
Ich kenne das Mißtrauen, welches das Gefühl des
Mannes der schöpferisch tätigen Frau entgegen bringt.
Ja, ich kann sagen, ich teile dieses Mißtrauen und
halte es für berechtigt. Ich muß darum zugeben, daß mich
die Natur in dieser Hinsicht gewissermaßen als eine Art
Mißgeschick geschaffen hat, aber in dieser Mißbildung liegt
gerade meine ganze Lebenskraft und meine ganze Lebenslust.
Daher kann ich sie nicht einmal fortwünschen. Aber es ist
nicht gerade angenehm, von vornherein als eine Art Mißgeschick
behandelt zu werden, darum verschleire ich gern meine Geschlechtszu-
gehörigkeit, wo ich von künstlerischen Dingen reden möchte, solange
es geht, ohne direkt zu täuschen.

Mit herzlichem Gruß

A. Beer

Anmerkungen

  1. Georg-Kolbe-Ausstellung im Kunstsalon Paul Cassirer, Berlin, Oktober bis November 1921

  2. Werk Georg Kolbes, "Assunta", 1919/1921

  3. Werk Georg Kolbes, "Sitzende", 1921

  4. Werk Georg Kolbes, "Tänzerin", 1911/1912, 1912 erworben für die Nationalgalerie Berlin, deren Neue Abteilung von 1919 – 1937 im Kronprinzenpalais eingerichtet war.

  5. Werk Georg Kolbes, eigentlich "kleine Amazone", 1911/12

  6. Werk Georg Kolbes, „Lucino“, 1921