Transkription

Berlin-W. am 2./IV 05

Lieber Freund!

Die Nachricht von der glücklichen Geburt
Eures Kindes war freilich Grund
genug, Dir zu schreiben, zumal
ich das schon so lange vorher ohne
besonderes Ereignis hätte thun
sollen, doch meine Frau war in der
gleichen Lage, und so schrieb sie.

Wir freuen uns sehr mit Euch, Dein
letzter Brief schilderte uns in so ange-
nehmer ruhiger Weise Deine väterlichen
Betrachtungen des kleinen neuen
Wesens, dem wir auch zu seinen
Eltern Glück wünschen. Meine
Frau dankt Dir herzlich für diesen
Brief. Wir denken, daß Euer gütiges

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Geschick weiter walten wird und
Euch in angenehme Zukunft
führen wird.

Nichtwahr, die Geburt eines Kindes
ist ein seltsames Rätsel?
Daß Du nicht so bald nach Berlin
kommen würdest, dachte ich schon
immer. Du hast jetzt eben andere
Pflichten, die zunächst ihre Rechte
fordern. Wir verstehen das wohl.
Ich glaube aber doch nicht, dass Ihr den
ganzen Sommer in Dresden
bleiben werdet, weil Ihr doch so günstige
Gelegenheit habt, auf das Land zu
gehn. Ob wir nach Dresden kommen
können, weiß ich nicht, zunächst
haben wir die wenig angenehme
Aussicht, hier bleiben zu müssen; Du

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weißt, daß ich schon voriges Jahr dasselbe
Vergnügen hatte. Ein günstiger
Zufall mildert diese Verbannung,
ich fand ein Atelier nah bei der
Wohnung in angenehmer Lage,
wo nun auch ein kleiner Garten
uns gehören wird. Das wird für
uns Drei sehr angenehm. Trotzdem
kann ich aber die Sehnsucht nach einer
Reise nicht unterdrücken. Voriges
Jahr trösteten wir uns mit dem
jetzigen Frühling; wir dachten an
den Gardasee, als ich diese Unmöglichkeit
begriff, glaubte ich auf etwa
8 Tage nach London gehen zu können,
meine Frau u. Nora(1) waren ja

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vergangenen Sommer in Holland.
Aber der zweite Wunsch war auch zu
hoch gegriffen. Mit Mühe und Entbehrung
will ich eine solche Erholung nicht
herauspressen. Mein Lieber, ich war
allerdings oft recht sehr verstimmt,
und wozu sollte ich denn noch an Freunde
schreiben. Ich weiß, daß angenehme
Nachrichten angenehm wirken und
umgekehrt. Der ganze Winter verlief
unter beständig sinkenden Hoffnungen,
w dieselben, die vergangenes Jahr
stiegen, weil ich noch neu und
unbekannt war, die ich mit Recht
trug. Aber inzwischen erkannte ich
alle Möglichkeiten und Unmöglich-
keiten. Überall habe ich angeklopft,
und da ist es schwer, alle Tage den
Kopf hoch zu tragen.

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II

Ich bin es endlich gründlich überdrüssig,
solche Bettelage ### zu führen, natürlich
werde ich sie dennoch weiter führen, aber
kein Mensch wird imstande sein, mir
den Groll hinwegzureden. Nur
fremde Menschen können hier helfen,
und eben diesen fremden Menschen
soll ich meine Lage verbergen. –

Ein großes Glück ist, daß {ich} trotz der
verdrossenen Stimmung gut
arbeiten kann; das heißt, ich kann mir
die Sache günstiger vorstellen, wenn
ich unabhängiger wäre, aber ich bin
so schon zufrieden.

Alles um mich herum ist anspruchsvoll
und will nicht die geringste Bequemlichkeit
opfern, Dinge, die man in zehnfacher

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Steigerung dreist von mir verlangt.
Das ist das Recht des freien
Menschen, sich das Leben einzurichten,
wie es ihm beliebt; gewiß, natürlich
überall Egoismus, verstehe wohl,
aber wenn ich nur kämpfen muß,
nicht unter die Räder zu kommen,
so bin ich schon deshalb Feind des
Mitmenschen im Wagen.

Mein Lieber, von dieser Seite ist die
liebe Menschheit nicht schön, und ich wünsche
Dir, daß Du {Dich} niemals wirklich intensiv
mit dieser Rückenansicht beschäftigen
mußt. –

In die Ausstellung [Deutscher Künstlerbund 1905] will ich drei
Arbeiten senden; die Dir bekannte
Gruppe mit dem Krieger(2), eine weibliche
Figur(3)
derselben Größe in Bronze und

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eine ebensolche in Kalkstein(4).
Die Sachen sind nicht zu groß, sie sind
im echten Material, nun also
los und kauft, Leute!

Meine ganze Hoffnung klebt an diesem
letzten Sommer.

Einige Aufnahmen dieser Arbeiten
bekommst Du vielleicht in einigen
Wochen.

Hettner(5) war so freundlich, mir das
Geld zum Guß der Gruppe zu leihen. 600
Mark. In Wachs oder Gyps hätte ich
sie auf keinen Fall ausgestellt. –

Zwischen Hettner(5)‘s und uns hat sich
ein freundliches Verhältnis gebildet,
und ich weiß, daß Du schon längst
mit Recht erwartest, daß ich über Hettner(5)
und seine Frau schreibe.

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Ich bin sehr gern mit ihm zusammen,
besser wie mit ihnen, sein heiteres
und naives Temperament gleicht
sehr viel dem Wesen seiner Frau,
welche letztere besonders für mich aber
zuviel Französin ist, als daß ich schon
heute ein festes Urteil haben könnte.
Hettner ist rührend gut zu ihr, und
ich wünsche, daß sie das würdigt. Mit
meiner Frau ist sie gern zusammen
und küßt sie zum Gruß; eine
Freundschaft, die mehr aus äußeren
als inneren Gründen entstand.
Wir besuchen uns sehr oft abwechselnd.
Er wohnt sehr schön, hat Dir wohl selbst schon
davon erzählt. In vielen Besprechungen
freue ich mich sehr seines Hierseins,
mit seiner Arbeit bin ich aber nicht
ganz einverstanden; er ist sehr eifrig,

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III

aber der Weg scheint mir haltlos,
und daß er gerade diesen Weg geht,
scheint mir keine tiefe Notwendig-
keit zu sein. Ich habe hier einen
schweren Stand; hier kommt es viel
auf Hettners Gefühl an, denn
ich empfinde {es} nicht als mein Recht,
ihm die Wurzeln seiner Auffassungen
zu zerschlagen. Ich darf nicht tief dringen,
weil ich H. Freundschaft zu mir nicht
für so ausgesprochen halte, daß sie
unter allen Umständen bestehen
bliebe. Ich weiß nicht, was ich {auf} seinen
Ernst bauen darf. Hettner(5) ist
sehr begabt, es fällt ihm wohl nichts
schwer, aber sein Schritt ist nicht fest
genug, und ich vermisse die Männlichkeit.

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Wenn mich ein Mensch fragt:
wie gefällt Ihnen meine Frau, ist
sie nicht wundervoll? so glaube ich
nicht, daß die Frage eine gültige
Antwort aus mir herausholen kann.
Lieber Freund, das nur als Beispiel.
Ich kenne Hettner(5) sehr gut und
weiß, was ich seinem schwärmer-
haften Wesen gut schreiben darf.
Da nahm ich nie die Goldwage.
Aber in Sachen der Kunst führt
nur größter Ernst zur abgeklärten
Größe.

Urteil über fremde Werke
bringt noch nicht das rechte Urteil
über die eigenen.

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Hettner schickt die Bilder zur Ausstellung.
Er paßt wenig zu den heutigen
Malern, aber dieses Mal stellt nicht
die Sezession allein, sondern der
ganze „Deutsche Künstlerbund“ aus.

Nun genug lieber Freund,
ich schrieb viel über H., weil ich das
Dir schuldig zu sein glaube, und weil ich
weiß, daß Du ernste Worte ernst
aufnimmst. Ich will Hettner
ein guter Freund sein, denn
er ist mir sympha sympathisch.
Er wird es mir mit gleicher Freundschaft
vergelten. Freilich, neben ihm
spüre ich meine materielle Armut
doppelt, und das ist die unvorteilhafte

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Seite unseres Zusammenseins.

Später, später wird das aber auch
einmal anders sein.

Leb wohl, lieber Freund, grüße Frau
und Kind von uns beiden

immer Dein Kolbe –

Nb: ich denke, daß ihr später doch einmal
kommt, auch der Ausstellung wegen.

Anmerkungen

  1. Leonore, Tochter Georg Kolbes (19.11.1902, Leipzig – 28.06.1981, Berlin)

  2. Werk Georg Kolbes, Krieger und Genius, 1905

  3. Werk Georg Kolbes, Sklavin, 1905

  4. Werk Georg Kolbes, Sitzendes Weib, 1904

  5. Hettner, (Hermann) Otto (27.1.1875, Dresden – 19.4.1931, ebd.), Maler und Bildhauer

    http://d-nb.info/gnd/116779276