Inhaltsangabe
Romeis berichtet, er habe im Auftrag von Kolbe einer Dame am Münchner Marienplatz [Anna-Maria Derleth] einen Brief überreicht. Er erwähnt eine Italienreise und berichtet von seinen Arbeiten.
Transkription
Am Dienstag, d. 29. Dezember 
1924.
Sehr verehrter Herr Professor!
Verzeihen Sie mir bitte meine etwas verspätete Antwort 
und schließen Sie daraus nicht, daß Ihr Couvert etwa 
in gleicher Trödelei seine Erledigung gefunden hätte. – 
Ich habe es am Vorabend von Weihnachten selbst an seinen 
Bestimmungsort gebracht und ich glaube, daß dies gut 
war – denn es war außerordentlich schwierig, Ihre verehrte 
Bekannte(1) zu finden. Erst die Polizei machte mir begreif-
lich, daß nicht nur die Bildhauerei schwierig sei – sondern 
eben auch das Lesen eines Adreßbuches – sehr schwer zu er-
lernen ist. Es heißt nämlich nicht etwa 25, wie ich immer 
wieder dem Beamten zu erklären versuchte – sondern 
ich hätte, so meinte er, gütig lächelnd, – 2/5 zu lesen. 
Aber wer in ganz München käme auf den Gedanken, – 
daß es am Marienplatz einen fünften Stock(2) gäbe! 
Also lief ich schnell zurück – und klomm wie ein 
Wiesel immer höher und höher bis ich plötzlich 
auf eine alte Dame stieß, die einen doppelarmigen 
Kerzenleuchter in der Hand hielt. 
Im Hause Nr 25 waren merkwürdige Leute;- daß ich 
dieses Mal keine Bedenken bei der Abgabe des Couverts 
zu haben bräuchte,- begriff ich allsogleich. 
Ich muß gestehen,- obwohl ich mich – um in 
Ihrem Sinne zu handeln,- mit allen Salben und 
Ölen der Erde vorher eingerieben hatte – um ja recht 
schnell und gelenkig wieder zu entfleuchen – 
hier fand ich ganz entschieden meine Meisterin!
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Es half nichts, – ich mußte in diese so überaus 
niedliche Wohnung – und ich büßte diese meine 
Ungeschicklichkeit mit einem unendlich 
langen Frag- und Antwortspiel. – Aber, – 
trotz alldem! – ich blieb standhaft und erfüllte 
ganz bestimmt Ihren Auftrag,– der mir an 
sich so sehr viel Freude machte. – Ich glaube 
sogar erreicht zu haben, – dass das Couvert erst am 
Weihnachtsabend geöffnet wurde. – – 
Ich arbeite viel – und ganz allein. – Im Atelier stehen 
Köpfe,- eine lebensgroße Figur. Der Gedanke, als 
ganz Fremder gerade Ihre Anerkennung gefunden 
zu haben,- läßt mich über alle hiesigen Genies 
lachen. – Bleeker(3) hat unser Kriegerdenkmal(4) 
zu einem Oktoberfestereignis werden lassen. 
Man steigt nicht umsonst die vier Treppen 
tiefer – er hat dafür gesorgt. – Sein „toter Krieger“ 
liegt mit einer erhabenen Gewöhnlichkeit am 
Boden.
Ich habe vor nicht allzulanger Zeit das Glück 
gehabt in Italien zum zweiten Male mit die 
schönsten Figuren zu sehen; – auch solche, die 
lagen, – es fiel mir leicht, Ausrufe der Freude und
der Bewunderung für sie zu finden. –
Erlebnisse der beglückendsten Art haben mein 
ganzes Sein endlich mit warmem rotem Blute 
erfüllt – und ich mache zum ersten Male in mei-
nem Leben Figuren nicht nur um ihrer Erscheinung 
willen. Es würde eine unaussprechliche Dank-
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barkeit gegen meinen Schöpfer in meinem 
Herzen erwachen, wenn es mir gelänge, meinen 
Empfindungen und Gedanken, die mein Inneres 
erfüllen in einer Weise sichtbar zu machen, 
welche man gelten lassen dürfte. – Es wäre mir 
mit das größte Glück in der kommenden Zeit, Ihr 
Vertrauen zu rechtfertigen. – Sobald ich’s verant-
worten kann, werde ich mir gestatten, Photographien 
der Arbeiten Ihnen zu schicken. – 
Ich erlaube mir, Ihnen 
und Ihrer Familie alles Glück zum 
neuen Jahre zu wünschen! Werden Sie nicht 
dieses Jahr in die neue Sezession eine Figur schicken? 
Es ist ja niemand da,- der über einen guten Kopf hinaus-
kommt – und allen jungen Bildhauern würde damit hier 
ein großer Gewinn und Genuß geschenkt werden!
An was soll man denn hier studieren! 
So bleibe ich immer Ihr stets dankbarer
Romeis.
 
                     
                     
                     
                    