Inhaltsangabe
Transkription
Dresden d. 16.Okt. 22.
Lieber Georg, Deine schöne Sendung kam hier 
an, kurz bevor ich abreiste, und ich wollte erst 
lesen, was Valentiner(1) über Dich zu sagen hat, bevor 
ich Dir schrieb. Deshalb erhäl[t]st du erst jetzt Nach-
richt und herzlichen Dank für Deine freund-
schaftliche Gesinnung. Ich habe nun mit aller 
Muße das schöne Buch durchgenommen und Deine 
Cassirer(2)publikation dazugelegt, die ja der 1. Teil 
der Trilogie ist, deren 2. jetzt Valentiner heraus-
gegeben hat. Und so lag nun das wichtigste 
Material, – der 2. Teil in technisch sehr weit ge-
brachten Drucken – von einer Lebensarbeit vor 
mir, an der ich den tiefsten inneren Anteil ge-
nommen habe, deren Versuche und Ergebnisse ich 
zum großen Teil in der Nähe miterlebt habe 
und die mich mehr bereichert hat als irgend ein 
anderer Einfluß, den ich jemals empfing. Und 
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ich denke, auch du wirst eine Genugtuung daran 
haben, daß so nel mezzo di cammin einmal die 
Summe gezogen wird und Sinn und Bedeutung 
des ganzen sich enthüllen kann. Das, was man 
als Entwicklung darin nach dem Schema unserer
Anschauungs- und Ausdrucksweise dahin empfindet, 
ist mir nicht das wesentliche. Natürlich sind in-
dividuelle technische Fortschritte, von jenem Giovanni(3) 
bis zur Assunta(4), Wandlungen des malerischen 
und taktischen Interesses und neue Probleme 
festzustellen, wie sie im Lauf eines Viertel-
jahrhunderts auftauchen, in den Brennpunkt rückten 
und wieder gegenstandslos wurden. Da aber der 
Mensch so wenig als die Welt eine kontinuierliche 
Aufwärtsentwicklung hat und aller Fortschritt doch 
nur das Trugbild falscher Anwendung kausaler 
Begriffsmühen auf das Lebendige ist, so erscheint 
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etwas anderes wesentlich, nämlich die Continuität 
oder besser noch die Einheit in dem gesamten Werk. 
Was Du für die Kunst bedeutest, hängt nicht davon 
ab, ob Du die Virtuosität in der einen oder anderen 
Richtung so und so mit getrieben hast, sondern davon, 
ob Georg Kolbe in seinen wechselnden, immer 
neuen Manifestationen sich als einer erweist, der 
einen selbständigen und bedeutenden Faktor ausmacht, 
um den man nicht herumkann. Diese Einheit Deines 
Schaffens beglückt mich immer aufs neue, wenn ich 
die Blätter durchsehe. Wie Du ringst, Du die neuen 
Fragen formulierst, Du in einem freien Moment 
dann einmal ganz leicht und voll herrlicher Intuition 
einen Sieg erringst, das zeigt durch das ganze 
Werk hindurch immer die gleiche und, wenn ich 
so sagen kann, ausstrahlende Energie und den 
schöpferischen Willen, der bezwingt. Vielleicht hätte 
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Valentiner, der mir im ganzen sehr zu Dank ge-
schrieben hat, dies noch untersuchen können, was 
die Plastik heute wäre, wenn man Deine Per-
sönlichkeit und ihren Einfluß aus unserer Zeit sich 
wegdenken wollte. Ich bin sicher, daß sich dabei 
herausstellen würde, daß die Archipenko(5)s und 
die Eberlein(6) Typen alles überschwemmt hätten mit 
ihrem Flugsand, und daß Du es bist, der heute die 
Möglichkeit des plastischen Ausdrucks in die Zukunft 
rettet. Vielleicht klingt es Dir zu volltönend, wenn 
ich Dir das sage, ich muß aber ab und zu meinem 
Glauben und meiner ehrlichen Begeisterung Luft machen 
und bin froh, daß ich zu beidem noch fähig bin. Wir 
wollen uns nicht über Größe und ihre Relativität 
unterhalten, sondern das Lebenswichtige, das für 
uns jetzt und hier Lebenswichtige, fühlen, und 
um es auszudrücken, hat man nichts besseres 
als Wortattrap[p]en. Du wirst mich trotzdem verstehen. 
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Auf meiner Reise war ich übrigens in Tiefhart-
mannsdorf bei Vitzthum, wo ich dann in dem 
sog. Rosengarten die liebe kleine Bekannte aus 
jüngeren Jahren wiederfand. Eine trübe Geschichte 
von fallenden Blättern dort. Aber ich war doch 
erstaunt, wie wenig echtes ich aus der Glanzzeit 
vorfand. Wirklich zu wenig. Inzwischen hat Justus(7) 
eine neue Schule bezogen, und ich hoffe, dass er 
Ostern übers Jahr fertig wird. Ich kann nicht sagen, 
wie unverständlich mir dieser Schulbetrieb geworden 
ist. Ich sehe nur noch das Sinnlose und Falsche daran, 
halte aber meinen Jungen doch nicht für stark genug, 
um ihn von dem Üblichen schon jetzt zu lösen. 
Peter(8), der einen Tag bei uns war, wird Dir von 
uns erzählen. Wir grüßen Euch alle herzlichst. 
In alter Freundschaft Dein Hermann.
A propos: Wie kommt Valentiner darauf, 
jede Portraitdarstellung für ein künstlerisches 
Kompromiß zu erklären. Ist nicht jede freie 
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Phantasiegestaltung – mindestens für uns – im 
tieferen Sinn Portrait und jedes Portrait freie 
Phantasiegestaltung? Ich fürchte, er setzt Portrait 
für die Arbeit, die einer macht, nur weil er Geld 
braucht. 
 
                     
                     
                     
                     
                     
                     
                     
     
     
     
    