Inhaltsangabe
Transkription
Berlin, 11. V. 21.
Sehr geehrter Herr Professor!
Als Frl. Müller(1) und ich uns 
entschlossen hatten, Ihnen unsere Lage darzustellen, 
haben wir bei Ihnen ein so liebenswürdiges 
Entgegenkommen und ein so klares Anschauen 
unserer Lage und unseres Zustandes gefunden, 
daß wir von der Aussprache sehr beglückt 
waren. Für das freundliche Empfehlungsschreiben, 
das ich der Beschwerdeschrift beilegen durfte, möchte 
ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank sagen. 
Vielleicht darf ich bei dieser Gelegenheit auch 
sagen, welch Freude uns der Aufenthalt in 
Ihrem Atelier gegeben hat. 
Ich hatte schon oft vor fremden Menschen 
und vor der Fülle ihrer Kunst die Vielheit der 
Individualität als drückend empfunden, weil 
es nicht möglich war, sie zu bewältigen. Aber 
als ich in Ihr Atelier trat, da schien alles, was 
das Auge wahrnahm, klar und verständlich. 
Wir haben alles eingehend betrachtet, und jede 
Bewegung, jeder Ausdruck, jede Form war uns 
menschlich nah. Ich habe noch ein klares Bild 
vom ganzen Raum vor Augen und jede 
Figur kann ich mir ihrem körperlichen Eindruck 
nach noch deutlich vorstellen.
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Und was Sie über die Arbeiten sagten, hinter-
ließ das Gefühl, daß Sie unser Bemühen um die 
Form so sehen, wie es wirklich ist. Einmal eine 
objektive Stellungsnahme zu erfahren, gibt das 
Gefühl größerer Sicherheit und Vertrauen zur eigenen 
Arbeit; die meisten Urteile beziehen sich ja nicht 
direkt auf ihren Gegenstand, sondern zumeist 
auf ihre eigenen Voraussetzungen; und solche 
Urteile können mich für Augenblicke ganz 
verwirren und recht hemmen. –––
Die Angelegenheit, in der wir zu Ihnen 
kamen, hat sich für mich inzwischen nicht weiter 
entwickelt. Die Beschwerde ist eingereicht, aber 
bis jetzt haben wir noch nichts darüber gehört. 
Doch darum habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, 
daß sie zu einem Resultat führen wird. 
Darf ich Ihnen nochmals bestens danken 
und Sie zugleich bitten zu entschuldigen, daß 
dieser Dank so spät kommt? Die Auseinander-
setzungen auf der Schule, die sich zufällig jetzt 
drängende Arbeit und noch Angelegenheiten 
rein persönlicher Natur ließen mich trotz besten 
Vorsatzes bisher keine rechte Sammlung für 
einen Brief finden. 
Mit ergebenstem Gruß
Günther Martin.