Inhaltsangabe
Transkription
Lübeck, d. 15. Okt. 22. 
Roeckstr. 40. 
Lieber Professor Kolbe!
Ob Sie mitwissen, was alles 
in uns aufgeregt wird, wenn 
das erzene Bild eines geliebten 
Menschen täglich von uns um-
schritten, von unseren Händen 
betastet und von unseren Augen 
immer wieder umfangen – und 
geflohen wird? Ich war auf alles 
das kaum vorbereitet, und es 
brach gestern überraschend auf 
mich herein. Es ist so unver-
gleichlich schön, diesen edlen Kopf(1), 
an dem jeder Schatten mir ver-
traut erscheint, in bleibender 
Nähe zu haben – aber zugleich auch 
ängstet der Gedanke, daß ein Un-
umstößliches, Abgeschlossenes, nicht 
mehr Lebendiges aufgerichtet dasteht, 
daß das Sinnbild das wahrhafte 
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Leben zu ertöten droht. Ich fühle 
jetzt plötzlich deutlich, warum man 
nur Toten Denkmäler setzen kann. 
Aber man kann nur nach dem Leben-
digen das überzeugende Erinnerungs-
bild gestalten – u. so danke ich Ihnen von aus tiefstem Herzen. Und wir beide 
wissen ja: es war Zeit, hohe 
Zeit – wer weiß, wie lange dies 
Bilden nach dem Leben noch mög-
lich gewesen wäre! Einstweilen 
aber (und, nicht wahr, ich darf ja 
zu Ihnen nicht nur als zu dem 
Künstler, auch als zum schenkenden 
Freunde sprechen), einstweilen 
kann ich noch nicht ganz die 
Wallung beim ersten Eindruck 
überwinden: wie gern ich das er-
zene Bild ins Wasser würfe, könnte 
ich dadurch eine einzige Stunde mehr 
vom lebenden Menschen gewinnen. 
Aber ich fühle die Stunde nahe, wo 
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ich, umgekehrt, {aus dem} Bilde das ganze 
gelebte Leben mir wieder werde 
zurückgewinnen können und das 
Bleibende preisen, weil das Vergäng-
liche schwand.
Doch nun zum Kunstwerk. Der 
Weg dazu – verzeihen Sie, dass ich Sie 
das so ohne Umschweife fühlen ließ – 
war mir nicht ganz leicht gemacht 
durch die Wucht des Persönlichen. 
Aber nun bin ich doch langsam dort, 
wo man freier wertet. Und bin 
sehr, sehr stark überzeugt von 
der Qualität u. künstler. Bedeutg. 
dieser Arbeit. Ich glaube, es ist Ihre 
beste Bildnisbüste. Solch eine Über-
zeugung ist subjektiv u. nicht 
eigentlich beweisbar. Aber ich glaube, 
mir etwa diese Gründe doch dafür 
zu finden: die Stärke Ihrer Kunst 
liegt nicht auf Seiten der absoluten 
Form. Die Schönheit dieses Menschen-
Kopfes liegt nicht im anatomischen
Reiz. Ihre Kunst vermag das 
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Schwebende zu sagen, ohne weich zu 
sein. Die edle Anmut unseres Freun-
des liegt in der Zartheit, die nicht 
überfließt, sich nicht verschwendet, 
in der seltenen Art, wie Überfülle 
quellenden Gefühls in strengem, 
schlichtem Gefäß gebannt ist. So 
haben Sie alles Schönliche so ganz 
gemieden und die ernste Melan-
cholie der Schläfen, Augen u. Mund 
wird zum bestimmenden Eindruck. 
Und in der äußeren Form nichts 
als eine sehr zurückhaltende 
Treue gegenüber dem Metall. Ich 
sehe in dieser Bildnisbüste etwas 
von der höchsten Forderung des 
Menschenbildens überhaupt erfüllt u. 
nehme sie auf als einen köstlichen 
anvertrauten Schatz, an dem ich 
wachsen muß, wenn anders ich 
mich seiner würdig zeigen soll.
Und nun noch einmal 
zurück zum Menschlichen. Nicht 
zum Metall, sondern zu Ihnen.
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Ganz fühle ich erst jetzt, wo der 
erfüllte Wunsch sich auswirkt, 
wie zart u. lieb u. freundschaftlich 
dieser Gedanke war, an xxx {meiner} 
großen Lebenswunde mir dieses 
Menschenbild aufzurichten, eben 
als ein „Bild“, d. h. als ein Gefäß 
lebendiger u. erinnernder, ver-
gangener u. zukünftiger Gedanken.
Ich hoffe, daß ich noch vor Weih-
nachten zu Ihnen kommen kann, 
um Ihnen mündlich zu danken u. 
Ihnen auf Ihre freundliche Frage 
nach meinem Wohlergehen durch 
den persönlichen Befund zu beant-
worten, der Ihnen überzeugender 
sein wird als alle Worte. 
In herzlicher Dankbarkeit 
Ihr Carl Georg Heise
Und diese köstliche Patina!
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Haben Sie wohl schon eine 
Photo gemacht? Sonst will ich 
das gleich veranlassen.
 
                     
                     
                     
                     
                     
                     
    