Inhaltsangabe
Transkription
[6.5.1922, Datum nach Poststempel]
6. Mai,
Ich habe das Buch(1) wirklich schon 
zu Ende gelesen. 
Der Inhalt ist fähig, Richtung 
zu geben, zu bestücken oder 
verrückt zu machen, je nach 
dem Alter, Studium oder dem 
Ton, auf den man gestimmt ist. 
Mich hat es ungemein zum 
Denken angeregt, eine sog. 
Generalsreinigung des Gehirns. 
Es macht sehr kritisch, ich hörte 
den Rigoletto(2) und empfand das 
„viel Lärm um nichts“ deutlicher 
als sonst. Was aber müßte man 
nicht alles umstoßen? 
Als Roman ist das Buch mangel-
haft, denn eigentlich ist es ein 
Dialog, und zwar zwischen 
zwei Männern, einem starken 
und einem schwächeren.
Seite 2
Die zwei letzten Kapitel, die 
den Roman kennzeichnen 
sollen, sowie alle hiezu nötigen 
Verbindungen, sind überflüssig, 
oft störend. 
Auch hört man in Nebo allzu 
deutlich den Autor, der bei 
Balzak(3) so herrlich verschwindet. 
Deshalb aber bleibt die Weisheit 
und Wahrheit doch bestehen. 
Übrigens, glauben Sie, daß es 
Nebos geben kann, die 19 Jahre 
alt sind, angenommen, sie 
hätten die Möglichkeit all 
dieser Erkenntnisse, wenn 
sie vollkommen gesund sind? 
(Nebo vergaß, sich selbst zu 
analysieren!) 
Nur dann bestünde die 
Hoffnung, daß die Einweihung 
auch bei einer Paula möglich 
wäre. 
Seite 4
Wer krankhaft vom Leben 
zurückgehalten wird, benimmt 
sich ihm gegenüber eunuchenhaft. 
Wer Enthaltsamkeit predigt, 
müßte ein Christus sein. 
Denn er darf niemals so breit 
und nicht so amüsant vom 
Sinnlichen reden. 
Bei ihm {(Nebo)} glaubt man höchstens 
an gute Entwicklung. 
Diese ist auch das Einzige, was 
man für sich erstreben 
kann. Leben wie die Inder, 
um Alles los zu werden. 
Ich glaube nicht, daß ich als 
„Eingeweihte“ die hohe Reinheit 
Mozartscher Musik erkennen 
würde oder daß ich damals 
die Keuschheit ihrer Tänzerin 
so ungemein tief empfunden 
hätte. 
Seite 4
Wenn aber alles nicht 
mehr wäre, was ist dann 
Leben? Ich empfand nicht 
Keuschheit, man denkt sie 
höchstens, empfinden ist 
groß sein, ist schön sein, ist 
göttlichen Ursprungs zu sein. 
„Harmlos“ sein! 
Ihre Bertel.
Man begegnet im richtigen 
Moment oft dem richtigen 
Buch, manchmal sogar 
dem richtigen Menschen.
 
                     
                     
                     
                     
                    