Inhaltsangabe
Transkription
Sehr geehrter Herr Kolbe!
Vor Ende Februar werde ich nicht nach 
Berlin kommen können, aber dann werde 
ich Sie gerne aufsuchen.
Ich kann mir denken, daß Ihnen der „Herr“ 
Beer etwas unwahrscheinlich erschienen sein 
mag, weil ein Mann wohl kaum so mit dem 
Gefühl reagiert hätte. Bald nachdem ich den 
ersten Brief abgesandt hatte, war mir klar 
geworden, daß ich mich sicherlich in vielem für 
Sie unverständlich ausgedrückt habe. Wenn man 
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viel allein denkt, dann bildet man sich 
schließlich ein eigenes System der Gedanken 
und des Ausdrucks heraus und dem Fernstehenden 
sind die Begriffe und Gedankenassoziationen nicht 
leicht ersichtlich. Ihnen wird z. B. der Vergleich 
mit Bachscher Musik unklar gewesen sein. Die 
Bach(1)sche Musik ist meinem Gefühl nach ganz auf große 
einfache Klarheit der Form gestellt, alles durchfühlt 
bis ins Einzelnste und doch nur aus dem Gesetz des 
großen Zusammenhangs heraus. Die Wagner(2)sche 
Musik dagegen arbeitet mit Rauschmitteln; sie appeliert 
an Sentiments, während Bach zur Wahrhaftigkeit 
des Gefühls spricht und der Eindruck ein dauernd 
vertiefter ist. – Das andere Unverständliche wird 
die „Sehnsuchtsform“ gewesen sein. Der eine Künstler 
läßt sich ganz vom Augenblick bestimmen, während 
die Persönlichkeit der anderen dauernd über diesen 
Augenblick hinausragt und er dann in diesen 
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Augenblick immer etwas Prinzipielles, Endgültiges Konzentrisches 
hineinträgt. Das ist es, was ich unter „Sehnsuchtsform“ 
verstehe. Es ist etwas der Gegensatz Liebermann(3) – 
Marees(4). Dem einen ist die Kunst Temperaments-
sache, dem andern Ausdruck der ganzen Persönlich-
keit. – Dann „lebendiges Symbol“ – darunter 
verstehe {ich} das, was durch und zu unseren Sinnen 
recht im Gegensatz zum gedanklich konstruierten 
Symbol. Rodin(5) z. B. hat in seiner mittleren 
Zeit Werke von starkem Ausdruck geschaffen, 
aber dann hat er sich, meinem Gefühl nach, zu sehr 
von gedanklicher Spekulation verleiten lassen. 
Seine späten Werke wirken nicht mehr unmittelbar 
durch das Gefühl, sondern auf dem Weg über 
den Gedanken. – Jede Form, jede Farbe hat ihren 
ganz natürlichen Gefühlsausdruck sowohl an sich, als 
auch bestimmt durch ihre Beziehung zur Umgebung. 
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Ich denke mir, daß dieser Gefühlsausdruck ursprünglich 
durch Assoziation mit Natureindrücken entstanden 
ist, jetzt aber besteht er an sich, losgelöst vom Gegenstand. 
Nicht jeder ist wird sich dessen bewußt und ebenso gibt 
es auch solche, die garnicht ausdrucksfähig sind, so wie 
es auch gänzlich unmusikalische Menschen gibt. – 
Habe ich mich nun verständlicher ausgedrückt? –
Durch meinen Assuntabrief(6) wollte ich von Ihnen erfahren, 
wo ich mehr von Ihren Arbeiten sehen könnte, und 
dann lag mir daran zu wissen, ob die Assunta(7) wohl aus 
der Empfindung heraus entstanden ist, die daraus zu 
mir sprach. Die Möglichkeit einer persönlichen Bekanntschaft 
hatte ich zunächst nicht in Betracht gezogen und weil es 
mir unbequem war, diesen „Herrn“ Beer zu berichtigen, 
darum „wollte“ ich in Berlin keine Zeit finden, zu Ihnen 
zu kommen; aber nachher hat es mir leid getan und ich habe 
mir dann doch einen Ruck gegeben und geschrieben. – 
Über meine Arbeiten kam ich Ihnen brieflich nur All-
gemeines sagen. Mir ist es niemals um naturalistische 
Wiedergabe zu tun. Vom naturalistischen Gefühlspunkt aus 
vergewaltige ich Form u. Farbe. D. h.[Das heißt], es kommt mir z. B. 
nicht darauf an, einen Kopf zu klein, einen Arm zu lang 
zu geben, eine Halslinie auf einen primitiven Strich zu 
reduzieren, wenn dieser im Sinn der von mir gewollten 
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Ausdrucks notwendig wird, wenn ich z. B. dadurch 
etwas eine ausdrucksvolle Gebärde unterstreiche 
oder eine größere Ruhe der Farbflächen erreiche. 
Ich möchte keinem gefallen ohne den Ausdrucksgehalt 
der Form luminaristisch zu zerstören. Ich will große 
einfache Farbflächen, in denen die Farbe in ihrem 
Ausdruckswert zur Sprache kommt, niemals aber natu-
ralistische Farbe. Aber es hat wenig Sinn, darüber zu 
schreiben. Ich kann Ihnen einige Arbeiten von mir, die 
ich in Berlin habe, gelegentlich zeigen. Ich weiß, daß 
ich noch nichts Endgültiges geleistet habe. Ich stehe 
immer mit meinem ganzen Gefühl in einer Arbeit. 
Aber stets beweist mir die nächste, wie wenig noch in 
der Vorangegangenen gelöst ist. Aber es ist weder 
das Streben nach Vollkommenem noch nach Anerkennung, 
das zum Arbeiten veranlaßt, sondern einfach das 
Lebensgefühl selbst, welches irgendwie nach Ausformung 
drängt. Man tut, was man weiß und bemüht sich, 
dieses immer klarer heraus zu kristallisieren. 
Nun habe ich aber genug von mir erzählt. Habe ich mich
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wohl klarer ausgedrückt?
Mit den besten Grüßen
A. Beer.