Inhaltsangabe
Transkription
D.[Dresden] 26. September 04 [Jahreszahl von anderer Hand zugefügt]
Lieber Freund, Ich sehe auf Deinem letzten Brief heute mit 
Schrecken das Datum vom 7. August. Es giebt leider keine 
Entschuldigung für mein langes Schweigen. Dein Brief und der 
Deiner Frau haben wie immer bei uns große Freude hervor-
gerufen. Wir beide sind in Gedanken so oft bei Euch und 
wünschen nichts mehr, als einmal wirklich so mit den Freunden 
zusammenkommen zu können, wie es uns Bedürfnis ist. Aber 
freilich, Du hast recht, wenn Du von den kurzen Besuchen nicht 
viel hältst, auf die wir nun angewiesen sind. Es ist kein 
großer Gewinn, so ein paar Stunden zusammenzukommen, die 
gewöhnlich hingehen, nur um die alten Fäden wieder aufzunehmen. 
Trotzdem aber besser als nichts; ich will doch in diesem Jahr 
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noch einmal nach Berlin fahren, um Dich zu sehen. Mein Plan 
ist der, am Reformationsfest, Montag den 31. Oktober, zu 
kommen. Ich will dann schon den Tag vorher zu meiner Schwester 
nach Schlabendorf fahren; von dort komme ich leicht nach Berlin 
am Morgen und reise mit dem Abendzug nach Dresden zu-
rück. Das ist wohl besser, als in Berlin zu übernachten. Doch 
kann ich das vielleicht doch thun. Was denkst Du und Deine 
Frau darüber? Freilich komme ich wieder allein. Meine 
Frau will sich jetzt recht sorgsam hüten, um nicht in dieselbe 
Lage wie vor zwei Jahren zu kommen. Es geht ihr aber sehr 
erfreulich gut. 
Aus Deinem Brief sah ich wieder, daß Du auch in Berlin 
viel und schwer zu kämpfen hast. Ich habe unter dem Gedanken 
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an Euch sehr zu leiden; und es ist für mich doppelt schwer, Dich 
so ringen zu sehen, als mir gerade in letzter Zeit das Leben 
mit meiner Frau sehr nach meinen Wünschen eingerichtet 
war. Wie lang soll das noch dauern. Hier in Dresden ist 
wohl nach dem Ankauf der Büste vorläufig nichts zu machen. 
Hier auf der Ausstellung sind wieder merkwürdige 
Sachen verkauft worden. Berühmte Leute wiederholen sich 
selbst, Minderberühmte wiederholen andere: das findet 
dann Käufer. Das ausgefahrene Geleis ist ganz alleine 
beliebt. Aber freilich: es ist so furchtbar schwer, sich außer-
halb desselben zurechtzufinden. Du glaubst nicht, was 
es mir für Mühe macht, in so einer Ausstellung unter 
den Unbekannten auch nur ein paar interessante Sachen 
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zu finden. Es sind deren viele, bei denen ein sehr ernstes 
Streben sich zeigt, die sich gute fremde Arbeiten genau und 
dabei so angesehen haben wie ich sie verstehe, und durchaus 
nicht allen ist dann die Geistlosigkeit gleich so auf die 
Stirn geschrieben, wie manchem Münchner Schollenmann, 
oder wie die Leute heißen. Was gebe ich mir oft vor einem 
einzelnen Bild Mühe, die dann nicht belohnt wird. Du 
kennst das Wort von dem Warten, bis das Kunstwerk 
spricht. Nun gut; aber vor 2000 Bildern kann man nicht 
warten, auch nicht vor den vielen, die bleiben, wenn ich die 
Makulatur, oder was ich dafür halte, abziehe. Du beklagst Dich, 
daß so wenige das Kunstwerk als Einzelding betrachten. 
Ich halte chinesisch lernen für leichter als das. Ich wenig- 
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stens muß, um das Kunstwerk so zu würdigen wie 
du willst, es eben auch als Einzelding haben; bei mir, 
oft, allein, vertraut werden damit. Vertraulichkeit und 
Kunstjahrmarkt! Für mich ist der beste Gewinn so einer 
Ausstellung doch nur, daß ich hier oder dort an mir 
schon bekanntes ein neues anknüpfen kann, oder etwas 
mir unbekanntes mit Interesse und Genuß sehen, ohne 
doch in der Regel eine letzte Zurückhaltung los zu werden. 
Gerade dann sehne ich mich immer nach dem Künstler; 
wenn ich Kunstwerke kaufen könnte, würde ich immer 
erst den Künstler aufsuchen und mich dann zugleich mit 
ihm und seinem Werk auseinandersetzen. Das ist ja 
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eben, was der geschäftlichen Betrachtung die ewige Popu-
larität sichert: da kann ich mir den Mann einladen; 
erfahre, wie er gelebt hat, mir viele seiner Sachen zu-
sammensuchen, und auf einmal wird die ganze Sache 
lebendig, wird eine Persönlichkeit: da weiß ich dann 
gleich, ob sie in der Richtung meines eigenen Strebens 
steht, so etwa mein idealisiertes Ich ist, oder doch damit 
Berührung hat. Und dann wird mir das einzelne Werk 
so lieb und wert wie etwa der Brief eines Freundes. 
Ich schreib Dir das, weil das Kunstwerk als Einzelding mir 
noch gar nicht plausibel ist. Ja, ich möchte sagen: als Einzel-
ding ist meinem Urteil bisher nur der Kunstgewerbe-
gegenstand unterworfen, der ruhig stumm, ruhig wartet, 
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bis ich ihn brauche und hernehme. Aber das Kunstwerk, das 
selbst redet, mich nimmt, – damit werde ich so nicht fertig. 
Ich komme durch die leidigen Verkaufsfragen darauf: Es 
ist für das Publikum heutzutage, wo das Heer der 
Künstler die Käufer unter denen suchen muß, die nicht 
mit ihm ein gemeinsames Leben teilen, furchtbar schwer. 
Vielleicht habe ich den Grund angegeben, warum so viel 
leichter Kunstgewerbesachen als reine Kunstwerke ver-
kauft werden. Ich denke mirs fürchterlich, wenn jemand 
nun ein Bild gekauft hat und das fängt dann an, 
ihm Sachen zu erzählen, die er nicht hören will oder ab-
solut nicht brauchen kann. Und das ist also das Übel: 
daß ihr gezwungen seid, hier ein Bild und da ein Bild 
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an einen mehr oder weniger schofelen Kommerzrat zu verkaufen 
und doch ächte [echte, Rechtschreibung vor 1901] Unterstützung, wie ich sie mir denke, mir von 
einem feinen Kerl gegeben werden kann, der eben den Künst-
ler als Menschen voll versteht und deshalb nicht müde wird 
noch werden kann, seine Sachen immer wieder sich zu kaufen. 
So denken die Käufer immer – an Wiederverkäuflichkeit 
und ihr – an den nächsten. Das freilich ist nicht zu ändern. 
Aber deshalb nun auch noch was anderes. 
Ich habe mich sehr für das interessiert, was Du mir über Derleth(1) 
schriebst und werde mich sehr über eine Photographie Deiner Arbeit 
freuen. Du lehnst den Mann freilich ab und hast, da Du ihn 
kennst, gewiß damit recht, wenigstens was seine Resultate an-
langt. Ich kann jedoch dadurch das große Interesse, was ich für 
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den mir nur vom Hörensagen bekannten halte, auch heute nicht 
verläugnen. Die ganze geistige Bewegung Derleths nötigt mir 
eine große Bewunderung ab, und da ich nicht weiß, ob wir uns 
hier ganz einig sind, möchte ich Dir einmal auseinandersetzen, 
was etwa ich von Derleth denke. Sollte ich Dir so etwas früher 
schon mal gesagt haben, so verzeih. 
Ich nehme Derleth als ganz ernsten Ethiker. Das Problem der Ethik 
scheint mir für alle Zeit klar von Sokrates festgestellt zu sein. 
Dieser ging davon aus, daß jeder Mensch von einem Dämonium 
beherrscht sei (das man auch intelligiblen Charakter, kategorischen 
Imperativ oder sonst wie nennen mag), und fragte zweierlei: 
Ist die in dem Dämonischen enthaltene Norm des Handelns 
zwingend nur für den einzelnen, oder allgemeingültig; und 
andererseits: Wenn diese Norm allgemeingültig ist, kann der 
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einzelne dazu gebracht werden, sie zu erkennen und danach sich auch zu 
halten, mit anderen Worten: ist die Tugend lehrbar oder nicht. 
Diese genial gestellten Fragen hat Sokrates beide nicht zu beantworten 
zu können erklärt: Er war davon überzeugt – intuitiv –, daß beide 
zu bejahen seien, erklärte aber, die theoretische Begründung dazu nicht 
geben zu können, die höchste Norm des Handelns nicht verstandes-
mäßig begriffen zu haben: Ich weiß, daß ich nichts weiß. – Das ist 
wie alles, was über Sokrates gesagt wird, konstruiert, da er ja 
nichts geschrieben hat. Ich lese aber aus Plato heraus, daß er seinen 
Meister so verstand. – Nun verträgt es sich mit jeder tieferen 
menschlichen Erkenntnis nur, wenn sie, die notwendig von der Viel-
heit auf Einheitliches zurückkehren muß, auch das, was Sokrates 
das Dämonische nennt, als ein einheitliches erfasst. Alle Philosophen 
haben daher, soviel ich sehe, dies Dämonische als ein in allen Menschen 
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identisches angesehen und eine allgemein gültige Norm dafür ange-
nommen, die sie freilich {bald} als lebensfeindlich, bald als lebensbejahend 
zu verstehen glaubten. Hier scheint mir Derleth nicht weiter ori-
ginell. Er nimmt natürlich auch die Allgemeingültigkeit der 
Norm an, ohne sie zu begründen, und definiert setzt die Norm, wie das 
ja auch in den Auffassungen der letzten 20 Jahre stark an der 
Tagesordnung war, als eine jasagende. Wohl aber ist er erstaunlich 
originell gegenüber der 2. Frage. Sokrates glaubte, die „Tugend“ 
nur lehren zu können, wenn er das „höchste Gut“ erkannt {und definiert} hätte. Da 
ihm das nicht gelang, verwahrte er sich dagegen mit großer Heftigkeit, 
ein Lehrer der Tugend genannt zu werden. Andere, die die Formel 
für dies höchste Gut gefunden zu haben glaubten, hielten diese Er-
kenntnis teils für mitteilbar, teils, weil sie sahen, daß Moral-
unterricht die Menschen nicht bessert, nicht für mitteilbar. Derleth 
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aber bringt aus dem Gedankengang das Wort Erkenntnis heraus: 
Er begnügt sich mit seiner unmittelbaren intuitiven Gewißheit der 
allgemeingültigen, affirmativen Norm und ist von ihrer Lehrbarkeit 
fest überzeugt; Nur teilt er, was er selbst nicht in Worten begreifen 
kann, nicht mit Worten mit, kann das gar nicht; aber er weiß, daß [das], 
was in ihm als That wirkt, unmittelbar, eben weil allen gemein, 
im anderen durch die That gemerkt und herausgerüttelt werden kann. 
Sokrates ahnt, daß die Tugend lehrbar seie, befangen im Wortdenken 
glaubt er, die Lehre werde durch Worte übertragen; Derleth ahnt, wie 
die Tugend lehrbar sei, und diese Ahnung ist wunderbar wahr. 
Ist das nicht schön, durch ihn zu erfahren, daß jede Formulierung 
des Sittengesetzes, jedes „Du sollst“ eine Verzerrung des Dämonischen 
ist und dennoch die allgemeine Norm jedem als innere 
Thatsache gegeben ist, deren er gewiß werden kann. 
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Da ist es auf einmal klar, daß die einzelnen Moralgesetze alle 
wandelbar sind, bei Völkern und in den Zeiten verschieden; daß 
sie mit dem Dämonischen nichts zu thun haben, nicht allgemeingültig 
sind etc. Von hier aus ist auch zu verstehen, warum die Tiere, 
die doch das Dämonische ebenso wie wir verkörpern, kein oder fast 
Bewußtsein daran haben; – ich will mich nicht weiter über etwas 
auslassen, das doch sehr {und besser} durchdacht und breit ausgeführt zu werden 
verdient, es kommt mir ja nur darauf an, Dir zu zeigen, 
wie ich mir Derleth klar zu machen versuche und was mir an 
seinen Gedanken groß und wertvoll zu sein scheint. Noch ein 
Paradoxon möchte ich anfügen: Christus führt alle „Du sollst“ des 
A.T. auf eines zurück; Derleth eliminiert auch das; der befiehlt 
und dem befohlen wird, ist hier eins, dafür: „Du mußt“, kannst 
gar nicht anders.– Ich finde da soviel Gutes daran; warum 
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ich nun Derleth dennoch nicht als den Lehrer anerkenne und von ihm 
sage, daß er nur etwas ahnt, weißt Du ja selbst. 
Nun nochmals, verzeih mein langes Schweigen, das wahr-
lich nicht aus Gleichgültigkeit entsprang. Und vergilt mir 
nicht mit der gleichen Münze. 
Viel herzliche Grüße von uns beiden Dir und Deiner Frau.
H.S.