Inhaltsangabe
Transkription
Dresden, d.12. März 04
Lieber Freund,
wenn ich mir überlege, warum ich in den letzten vier Wochen 
nicht einmal an Dich geschrieben habe, so oft ich auch in der 
Zeit dachte, so merke ich wohl, daß es die Folge des quä-
lenden Gefühls ist, das ich nun einmal jetzt nicht loswerde, 
wenn ich mir Deine Lage vorstelle. Du weißt, wie wenig Hoff-
nung ich auf mein Unternehmen setzte, und doch, wie gern 
hätte ich mich enttäuschen lassen! Aber nichts. Der gute 
Liebeskind(1), den ich Dir schon annoncierte, schrieb mir schließ-
lich, er sei gerade im Begriff, zu verreisen und hoffe, dann 
nach seiner Rückkehr im Sommer etwas thun zu können. 
Nun, ich dachte mir schon, wie der reiche Kerl wäre, nach dem, 
was mir mein Schwiegervater, dem er verpflichtet ist, erzähl-
te, und ich sehe, daß ich guten Grund hatte, Dich zu warnen 
und zu bitten, ihm gegenüber die Geduld nicht zu verlieren; 
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Solche Kerle fallen auf die Nerven. Also weg. Nun 
die Bearn(2). Natürlich habe ich ihr nicht eingeschrieben geschickt, 
ich lasse meine Briefe nie einschreiben und wußte nicht, daß 
das bei der Aristokratie Mode und nützlich ist, wie mir 
das mein Bruder nun sagte. Warum hast Du mir das nicht 
mitgeteilt? Oder besser: Was ist da jetzt zu thun? Ich 
kann doch meinen sorgfältigen Brief nicht noch einmal schicken, 
da sie ihn ja vielleicht erhalten hat. Jedenfalls haben wir 
nun das Resultat: Auch da nichts. Was ist nun zu thun? 
Überall sonst, wo ich angeklopft habe, bekomme ich freundliche 
Gesichter und weiter nichts. Soll ich mich noch einmal an 
Osthaus(3) wenden? Das ist wenigstens ein vornehmer Kerl, 
nach dem, was sie von ihm erzählen. Ich weiß aber nicht 
einmal, wie der Ort heißt, in dem er wohnt. Das ist das 
einzige, was ich noch weiß. 
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Du glaubst nicht, wie peinlich mir die ganze Sache ist 
und am meisten die brutale Art, darüber zu Dir zu re-
den. An den Körben, die ich mir hole, liegt mir freilich 
nichts, aber es ist wirklich kaum erträglich, so von dem 
Wunsche gefoltert zu werden, einem Freund zu helfen und 
nichts zu vermögen. Daß ich selbst nur das habe, was ich 
monatlich bekomme – außer wenigen hundert Mark – weißt 
Du, und ich weiß niemand, den ich angehen könnte, um 
Dir dann etwas borgen zu können. Meiner Mutter ist 
es nicht zuzumuten, sie lebt davon und muß meinen Bruder 
studieren lassen, und andere Verwandte anzugehen, ist mir 
einfach unmöglich. Verzeih mir bitte, mein Lieber, daß 
ich so schreibe, ich muß meine Ohnmacht eben einmal ge-
stehen, so wieder alles Fühlen mir geht, was ich schreibe; und 
begreife meine Furcht vor diesem Brief. Ich habe heute 
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mich endlich zu ihm gezwungen, weil ich von meinem Bru-
der Deinen Plan, nach Berlin umzusiedeln, hörte. Wenn Du 
auch schon davon gesprochen hattest, so war ich doch überrascht. 
Ich hoffte bestimmt, Dich von Leipzig fortziehen zu sehen, aber 
doch irgendwo in eine stille Einsamkeit oder nach dem 
Süden und in einer Weise, die offiziell Leipzig noch 
als Deinen Standort gelten ließe. Das ist natürlich 
nicht möglich, wenn Du nach Berlin gehst. Dort mußt 
Du noch einmal von vorn anfangen. Du sagst freilich, 
es wäre nichts, was Du in Leipzig verließest. Aber so 
steht es doch nicht. Du bist Sachse und hast in Sachsen 
eine ganze Reihe Fäden angesponnen. Wenn Du einen 
großen Erfolg hast, so kann Dir in kürzester Zeit hier in 
Sachsen eine reife Frucht in den Schoß fallen, die es Dir 
ermöglicht, hinzugehen, wohin Du willst. Und Du weißt doch 
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selbst, wie leicht Dir der Erfolg noch in diesem Jahr beschie-
den sein kann. Überall hast Du doch sehr starkes Interesse 
schon erzeugt und Klinger(4) hat, unser Papst, hat über 
Deine Arbeiten, wie mir Treu(5) und der Prof. Fritz 
Schuhmacher(6) erzählten, in einer Weise geredet, die ihren 
Eindruck gewiß nicht verfehlt hat. Es fehlt hier vielleicht 
so wenig, aber die Anfänge sind noch sehr schwach und 
könnten durch eine brüske Abkehr von Leipzig leicht 
zerrissen werden. Davor also möchte ich Dich warnen. 
Daß Dich nichts in Leipzig hält, begreife ich, wenn nicht 
Eure Connewitzer Wohnung. Aber überlege Dir bitte 
sorgfältig, ob Du etwas besseres eintauschst. Das 
thust du aber meiner Ansicht nach erst dann, wenn 
du mit ein paar tausend Mark in der Tasche Dir 
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frei einen Ort aussuchen kannst, den Du dann als 
Dein Sabinum bezeichnen kannst, während Du Dich 
weiter als nach Leipzig gehörig registrieren läßt. 
Was soll ich nun sagen? Es ist so schwer, etwas im 
Brief zu erörtern, wo die Einwürfe des Anderen so 
sehr die Hauptsache sind wie in unserem Fall. Ich 
möchte und will Dich in jedem Fall noch sehen, bevor 
Du von Leipzig fortgehst, was ja vermutlich auch für 
uns eine Erschwerung des Verkehrs bedeutet. Bleibst Du 
noch über Ostern, so komme ich mit meiner Frau; sonst 
einmal allein über den Sonntag. Was ist nun 
mit unseren Plänen geworden, uns in Italien zu 
treffen! Und was aus meiner Hoffnung, Dich bald als 
einen zu wissen, dessen Freudigkeit am Schaffen und 
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am Dasein nicht mehr eingeengt würde durch die 
Verbitterung des Kampfes um die Existenzmittel. 
Ich bin sehr traurig. 
Mein Bruder war hier und hat von Euch erzählt. Er 
spricht mit Dankbarkeit von Euch und hat mir ein 
Buch gegeben, das Leben Carlyle(7)s, das er mich bat, 
Euch zuzusenden. Es wird also demnächst kommen 
und mag als Zeichen seines treuen Gedenkens an 
die Zeit, die er bei Euch verbracht hat, aufgenommen 
werden. Mit den beiden Photographien, die Du 
schicktest, hast Du uns eine große Freude ge-
macht. Nun mein Lieber, und Sie, liebe Frau 
Kolbe, ich müßte mich für sehr stumpfsinnig halten, 
wenn die anderen nicht auch früher oder später fühlten, 
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daß das etwas ordentliches ist. Ich könnte noch ganz 
anderes sagen: denn mir sind die Arbeiten wunderbar 
lieb. Ich weiß nicht ob es giebt, das[s] ich so gut zu ver-
stehen und zu empfinden glaube wie das Paar. 
Und freilich freue ich mich auf die Zeit, wann ich zu 
Ihnen beiden nur noch von solchen Sachen zu reden 
habe, die erfreuen. 
Ich bin Dir, lieber Freund, und Deiner Frau treu verbunden.
H.S.