Inhaltsangabe
Dem Brief ist ein Notizzettel beigelegt, der erklärt warum der Brief erst im Oktober 1947 zugestellt werden konnte. Auf dem Briefumschlag der handschriftliche Vermerk: "Letzter vom Meister gelesener Brief".
Der beiliegende Notizzettel vom Oktober 1947 und der Briefumschlag stammen aus dem Nachlass von Maria von Tiesenhausen und wurden dem Brief 2022 nachträglich beigelegt.
Transkription
4.V.47.
Niederarnbach bei Ingolstadt
Oberbayern
Lieber Kolbe
Durch die Zeitung erfahre ich, dass Sie 70 Jahre alt geworden ist sind.
Zwar sehe ich nicht ein, warum man jemandem Glück wünscht,
weil er alt geworden ist. Aber es {ist} nun mal eine alte Sitte, und ich
benutze sie als Anlass, Ihnen zu sagen, dass ich Ihnen immer
alles Gute wünsche und in unveränderter Treue an unserer
jetzt 50jährigen Freundschaft festhalte.
Unsere Wege sind immer weiter auseinander gegangen, so-
wohl äusserlich als auch in den Zielen, denen wir nach-
strebten, aber das konnte nichts an der alten Anhäng-
lichkeit ändern, mit der ich oft Ihrer gedenke.
Steht Ihr Atelier und Haus noch? Einmal gingen Gerüchte,
Sie hätten in der Lausitz ein Atelier. Aber das ist wohl schon
seit 45 überholt. Haben Sie eine akademische Lehrtätig-
keit übernommen, wie ein anderes Gerücht berichtete?
Arbeiten Sie noch viel und haben Sie schöne Aufträge?
Und vor allem, was machen Ihre Augen, über die Sie
schon das letzte Mal, als wir uns in München sahen, klagten?
Ich bin mit meiner Frau 1943 zu meinem Schwiegersohn
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Baron Pfetten(1) hierher aufs Land gezogen. Mein Haus in
München blieb zwar von Bomben verschont, nicht aber von
Zwangsmieten. Auch meine dritte Tochter, die eine Pension
in München führte, musste ich dort aufnehmen, nachdem
sie alles verloren hatte. So kann ich heute noch nicht über-
sehen, ob und wann ich hoffen kann, in mein eigenes
Haus zurückzukehren. Dadurch, dass der Rest meines
Vermögens in den Girosammelkonten verloren ging, kann
ich vielleicht überhaupt nicht wieder selbständig leben.
Mit Aufträgen kann ich nicht rechnen, nachdem die Kreise,
für die ich meist arbeitete, heute zu den mittellosen
Flüchtlingen gehören. Ein grosser Auftrag steht in Gips
fertig (ein Sarkophag mit liegender Figur) und kann
nie ausgeführt werden, weil die Besteller Bettler sind.
Trotzdem geht es mir mit meinen 74 Jahren gut. Ich
bin gesund, meine Frau im Allgemeinen auch. Dass
man mit 5 Kindern und elf Enkeln auch Sorgen hat,
ist selbstverständlich. Meine Frau lässt Sie sehr herzlich
grüssen in Erinnerung an die Weihnachtstage 1900,
die Sie mit uns verlebten. Schöne, sorglose Zeiten!
In alter Treue Ihr
Hans-Albrecht Harrach