Transkription

Sanatorium am Königspark
Dresden-Loschwitz

15.XII.30

Lieber Professor,

Als ich das letzte Mal bei Ihnen war,
habe ich Ihnen versprochen, mich wieder
einzustellen, wenn mich der Weg erneut
nach Berlin fahrt.

Nachdem ich nun von langer Krank-
heit wieder auferstanden bin, möchte ich
vor meiner Rückkehr nach Verona ei-
nen Sprung nach Berlin tun, wo ich Sonn-
tag und Montag zu verbringen gedenke.
Wüsste ich, dass ich nicht ungelegen käme,
würde ich Ihnen Montag Nachmittag
(oder auch in der Frühe, je wie es Ihnen passt)
sehr gern einen kurzen Besuch abstatten.
Ich würde bei dieser Gelegenheit Ihnen
gern die Schwester eines Freundes vor-
stellen, ein sehr sympathisches junges

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und begabtes Menschenkind, von wohl-
tuender Natürlichkeit, die aus Riesen-
respekt vor Ihnen nie von allein sich zu
Ihnen wagen würde. Sie hat offensichtlich
bildhauerisches Talent, und die Freude
am „Kneten“ scheint einem tiefen inneren
Bedürfnis zu entspringen. Ich bin im all-
gemeinen kein Freund von weiblichen Künst-
lerinnen, aber ich habe den Eindruck, als
ob dieser ernsthafte junge Mensch, dessen
Werdegang ich seit einigen Jahren ver-
folgen konnte, auch ernst genommen zu
werden verdient. Fräulein Krayer lebt z. Zt. in
Hamburg, aber ich glaube, ihre keine grösse-
re Weihnachtsfreude machen zu können,
als sie zu bitten, auf einen Tag nach Berlin
zu fahren, um Ihnen einen Besuch abzu-
statten.

Ich hoffe, Sie frisch und wohl anzutreffen
und freue mich herzlich, Sie bald begrüs-
sen zu können.

In grosser Anhänglichkeit
Ihr
Hans Mardersteig