Inhaltsangabe
Transkription
Florenz am 6./ II 06
18 via Senese.
Lieber Freund!
Nebenbei sende ich Dir die Abschrift 
meines gestern am 5. eingetroffenen 
Briefes von Graul(1), über den Du 
vielleicht ebenso erstaunt sein 
wirst wie ich. Man giebt mir 
stillschweigend Recht, und um 
einer Entscheidung zu ent-
gehen, verlegt man die 
Angelegenheit in die Regionen 
des Gefühls und des Taktes. 
Ob der Rat der Stadt nun wirklich 
schon Antrag auf Ankauf stellte 
(wie hier steht) oder nicht, kann ich 
nicht wissen. 
Du wirst sehen, daß die Büste(2) hier 
noch eben bis Ende Febr. nicht 
zu haben ist, daß sie auch schwerlich 
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von Leipzig angekauft 
werden wird. Wie, meinst Du, 
daß ich sie trotzdem fordern soll? 
Ich antwortete Graul noch nicht, 
weil ich erst eine Nachricht von 
Lingner(3) haben möchte. 
Die Sache ist so schwer von hier 
aus zu regeln. Wüßte ich 
Lingner(3)’s Stimmung, so 
würde ich nach Leipzig überhaupt 
nicht mehr antworten, bis 
die Büste abgegeben wird, 
und dann wäre es immer noch 
Zeit, diesen anmaßenden 
Burschen dort eine Geschichte zu 
erzählen. 
Lingner möchte ich gut behandeln, 
da er mir in Zukunft noch 
Aufträge in Aussicht gestellt hat 
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und da er sich bis jetzt überhaupt 
immer recht artig gegen mich 
betrug.
Willst Du mir auf einer Karte 
Deine Ansicht freundlichst sagen? 
Du warst vielleicht inzwischen auch 
schon bei Lingner und kennst 
seine Stimmung; würde es 
nicht gut sein, wenn Du ihm den 
abgeschriebenen Brief Graul’s 
zugehen ließest? 
Das lege ich ganz in Deine Hand. 
Wie geht es im Hause? Also Ihr 
kommt nicht hier nach Florenz? 
Mir persönlich hätte es sehr behagt, 
Euch hier zu haben, aber vielleicht 
wäre die Schwierigkeit Eures Besuches 
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bei Hettner(4) und uns ebenso 
groß wie damals in Berlin gewesen. 
Im Sommer sehen wir uns ja 
sicher wieder hier und wohnt Ihr 
trotz der Versetzung immer in 
Dresden. 
Auf unsere Rückkehr nach Berlin 
freuen wir uns sehr. Eine eigene 
Wohnung mögen wir sehr gern. 
Florenz macht uns gewiß viel 
Vergnügen. Michelangelo(5) und 
auch Donatello(6) üben große Macht 
auf uns aus und sind künstlerisch 
das, was mich aufrecht erhält. 
Die Antiquitätenhändler lieben 
wir sehr und fanden schon recht feine 
Sachen da. Aber wenn Lingner 
abschwappt, werde ich nichts mehr 
kaufen. – Das ist nun wieder 
eine Schreiberei u. kein Brief, den ich 
Dir schon längst zu schicken müsste. 
Habe bitte Geduld und sei mit Deiner 
Frau und Deinem Sohn herzlichst von uns 
gegrüßt.
[Einfügung rechter Rand, senkrecht] Dein Kolbe -
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[Beilage]
Abschrift:
Leipzig 3./2 06.
Sehr geehrter Herr Kolbe –
Meinem Telegramm werden 
Sie entnommen haben, daß uns 
ein von Ihnen am 24. Jan. abgeschickter 
Brief nicht zugegangen ist. 
Offengestanden verstehe ich nicht, 
weshalb Sie sich bis zur Androhung 
letzter Schritte aufregen. Der Rat der 
Stadt hat Ihnen die Ausführung 
der Büste durch einen Zuschuß erleichtert 
und hat in der ihm zustehenden Frist 
den Antrag auf Ankauf der Büste durch 
die Stadt be gestellt – und Sie fordern 
die Büste zurück, ohne auf den Ausgang 
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der Angelegenheit zu warten? 
Zum mindesten ist das der Stadt 
und dem Ausschuß gegenüber, 
die doch recht entgegenkommend 
gewesen sind, nicht ganz liebens-
würdig. 
Auf eine Anfrage bei dem Herrn 
Oberbürgermeister ist mir soeben 
der Bescheid geworden, daß vor Ende 
Februar eine Entscheidung in 
der Angelegenheit nicht erwartet 
werden kann. 
Wenn Sie nun glauben, Ihre Büste 
plötzlich besser verwerten zu 
können als durch den etwaigen 
Ankauf durch die Stadt geschehen 
wird, so wollen Sie Ihre Forderung 
direkt an den Rat der Stadt 
Leipzig richten. 
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Es thut mir leid, daß mich der 
Ton Ihres Briefes gezwungen hat, 
Ihnen vorstellen zu müssen, daß 
diejenigen, die die Entstehung der 
Büste überhaupt ermöglicht haben, 
im gegebenen Falle wohl einige 
Rücksicht verdienen, um so mehr 
als ihr Bemühen um den Verkauf 
der bisher in St. Louis, in Berlin u. in 
Hamburg unverkäuflichen Büste 
doch nur dem Künstler nützen soll. 
Nun handeln Sie, wie Sie es für 
gut und recht halten. 
Mit bestem Gruß
Ihr wohlmeinender 
Dr. Graul