Inhaltsangabe
Transkription
Berlin-Wilmersdorf am 28./IX 05
Lieber Freund!
Deine letzten Nachrichten über das 
Befinden Deiner Lieben hat uns sehr 
beunruhigt, wir verstehen ganz 
den Schmerz solcher Ereignisse, denen 
man trotz aller erdenkbaren Sorge 
und Mühe so machtlos gegenüber-
steht. Deine Frau ist wohl nun 
zurückgekehrt und wir wünschen 
sehr bald eine günstige Karte zu erhalten. 
Sicherlich wird die Lage besser sein, als Du 
sie in übergroßer Sorge gesehen hast, 
aber freilich, das Leben eines Kindes 
ist unsere größte Verantwortung 
und die unmöglichste zugleich. 
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Wir wollen, bevor wir nicht ganz 
gute Nachricht von dem Fortschritt der 
Besserung erhalten haben, garnicht 
über einen eventuellen Besuch bei Euch 
sprechen. Es liegt ohne das noch Alles 
im Ungewissen. Wohl war Tuch(1) hier, 
und die Frage Florenz stand sehr 
nahe, aber eine Gewißheit wegen 
der Geldsumme liegt noch immer 
nicht vor, und es sagt mir fast nichts, 
wenn Klinger(2) nur fest daran glaubt. 
Thatsache ist, daß die Villa Romana 
jetzt errichtet wird und wir zur 
Eröffnung am 15. Nov. dort 
einziehen sollten. Einstweilen mit 
einer kleinen aus einer gewissen 
Kasse geliehenen Summe, weil 
Lingner(3) noch auf Reisen sei. 
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Ich setzte daraufhin, da ich den Optimismus 
nicht teilen kann, den letzten Termin 
auf 1. Jan. 06 fest, in der Hoffnung, 
daß der Mann dann von der Reise 
zurückgekehrt sei und ein Ja oder Nein 
aussprechen kann. Ob wir nun im 
günstigsten Falle doch eher einziehen 
könnten, weiß ich heute nicht. Klinger 
beantwortet keinen meiner beiden 
letzten Briefe, so daß ich wirklich Alles nur von durch Tuch habe, also überhaupt keine 
relative Sicherheit.
Wir sind aber sehr froh in der Gewißheit, 
daß Ihr uns wirklich gern seht, wenn wir 
nach Dresden kämen.
Augenblicklich kostet mich das Warten 
auf Cassirer(4)’s Besuch im Atelier alle Zeit. 
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Noch nie kannte ich einen Menschen von 
solcher Unzuverlässigkeit. Indes, ich brauche 
ihn und muß warten. – 
Lieber Freund, wenn du Dich über allzugroße 
Schweigsamkeit bei mir beklagst, 
hast Du vollkommen Recht. Aber 
lies da daraus nichts Ungünstiges 
ab, glaube mir, daß ich nicht weniger 
leidenschaftlich und nicht seltener 
mit den Gedanken bei Euch bin; es 
fällt mir nur außerordentlich schwer, 
ruhige, betrachtende Stunden zu finden. 
Und ich fürchte, daß das noch ärger wird, 
da ich einen wirklich intensiven 
Kampf mit donna Kunst führe. 
Pausen entstehen nur, wenn ich 
völlig erschöpft bin, und ich weiß nicht 
einmal, wann solche eintreten, 
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II
da ich selbst in der Ermattung noch 
nicht ablassen kann. Ich bin alles andere 
als verbissen in der Arbeit, aber ein 
so intensiver Drang beansprucht 
mich ganz und gar, daß ich jedermann 
um Nachsicht bitten möchte.
Wie auch das Ende sei, ich kann nicht 
anders handeln.
Von Deiner unfertigen Arbeit sprechend, 
führst Du Vergleiche an, wenigstens 
lauern solche hinter den Worten. 
Was meinst Du wohl, wieviel Pulver 
ich ohne Kanonenrohr verbrenne? 
Jammervoll erscheint mir das 
Vergeuden der Kraft. Ein Ziel 
habe ich noch nie getroffen, vielleicht 
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nicht einmal gesehen, daß es nur 
in der Vorstellung besteht.
Was glaubst Du, welche Conzentration 
mir zur Verfügung steht? 
Ich sitze zwar immer in feierlicher 
Erwartung, wenn Du das diese 
gesammelte Stimmung 
Conzentration nennen willst, 
aber die Kräfte all gehorchen mir 
noch lange nicht, liegen überall 
umher zersplittert. Glaube mir, daß 
es mir nicht anders geht als Dir. 
Ich freue mich sehr, daß Du mir ein 
erstes Mal von Deiner eigenen 
Arbeit gesprochen hast, und ich wünsche 
glücklichen Stapellauf. 
Mit herzlichem Gruß an Euch Beide von uns 
Immer Dein treuer Kolbe.