Transkription

Leipzig am 23./11. 1902

Lieber Schmitt

folgenden Brief hätten Sie auch bekommen,
ohne daß Sie mir schrieben. Er könnte schon
einige Tage abgesandt sein, doch war ich recht
in Anspruch genommen.

Mein gutes Weib hat mir am Mittwoch
ein gesundes Töchterchen geboren; unsere Freude
ist groß. Nie hätte ich gedacht; daß dieses Ereignis
einen solchen Eindruck auf mich machen
könnte; plötzlich ein wohlgeformtes, neues
Wesen in's Leben eintreten zu sehen,
welches vorher noch nie bestand. Mir schien es,
als würde ich in diesem Augenblick erst
Mensch. Und der Wert des Weibes als Mutter
steigt um das Doppelte. In des Wortes vollster
Bedeutung bin ich glücklich, wenn ich zu den
Meinen heimkehre.

Sie wähnten oft, daß mir mit Weib und
Kind Lasten kommen würden.
Natürlich giebt es neue Mühen und Sorgen,
aber sie sind für Dinge, welche das eigene
Leben verschönern. Sozial bin ich vielleicht
unfreier, ja, das ist gewiß, auch materiell
muß ich mehr Verantwortung auf mich

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nehmen, aber geistig konnte mich das alles
nur noch freier machen, und das ist es, was
allein in Betracht kommt.

Gewinnsüchtig bin ich nicht; und muß ich
mich auch nun mehr einschränken und „Vergnügen“
entbehren, so ist das noch kein würdiges
Opfer für solches Glück.

Andere Leute denken anders wie ich und
nennen mich dumm; ja, bedauern
mich vielleicht. Ein junger Mann soll sich
nicht so schnell binden. An das Gute darf
ich mein Leben aber getrost knüpfen,
vorausgesetzt, das ich es finde, ehe ich mein
Auge dafür verdorben ist.

Im Übrigen darf mich bemitleiden, wer
sich weiser dünkt.

Also, lieber Schmitt, ich bin Vater geworden,
und mein Töchterchen heißt Leonore.
Meiner Frau geht es den Umständen nach
recht gut und wir freuten und gemeinsam,
Ihnen, unserem Freund von unserem
Glück schreiben zu können.

Einige Tage mußte ich nun die Arbeit etwas
zurückstellen, denn meine Hülfe im
Hause war nicht notwendig.
Die Mutter meiner Frau ist jetzt hier, aber

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wegen eigener Leiden kann sie keine
so große Stütze sein. Eine Bedienung macht
die nötigsten Arbeiten, und ich wache
die Nächte für mein Weib und Kind.
So geht es besser als mit fremder Hülfe, die ich
obendrein nicht bezahlen könnte.

Auf die Tage der Niederkunft warteten wir schon
seit langer Zeit, und daher kam es, daß
Sie lange nicht von mir hörten.

Nun will ich Ihnen auch sagen, daß ich mich
über Ihren ersten Brief durchaus nicht geärgert
habe, der zweite machte mich aber sehr froh
gestimmt. Wohl bin ich manchmal etwas
verdrießlich wegen unseres Verhältnisses,
welches ich in dem hellsten Lichten zu sehen das
dringende Bedürfnis habe. Wenn Sie mich
nicht festhalten, lieber Freund, so werde ich
mich umsomehr anstrengen, Sie festzuhalten.
Wieviel Sie für mich sind, wissen Sie vielleicht
nicht aus eigener Erkenntnis und sollen
es auch garnicht, ich selbst werde es Ihnen sagen.
Sagen Sie mir dafür auch manchmal, daß
ich Ihnen ein klein wenig sein kann.
Ich bin dem Geschick so sehr, sehr dankbar, was
mich zu Ihnen führte. Glauben Sie das.

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Im Grunde genommen ist unser beider
Inneres so gleich, wir sitzen nur unter
etwas anderen Umständen in der Welt.
Gestern sagte ich zu meiner Frau, daß ich
Ihretwillen sofort nach Dresden übersiedeln
würde, damit wir nicht mehr die verdammte
örtliche Entfernung zwischen uns haben; aber
Ihr dortiger Aufenthalt ist ja doch so unsicher.
Wenn ich vor Weihnacht von Hause fortkann,
werde ich Sie noch einmal kurz besuchen.
Ich freue mich ebenso auf ein Wiedersehen.
Auch möchte ich Ihre Frau gern kennen lernen.
Allerdings muß ich noch gewaltig viel arbeiten,
damit die „große“ Ausstellung in Jan. o. Feb.
zustande kommen kann.

Meine Skulptur macht mir sehr viel
zu schaffen. Der große „Hundemörder(1)
kam vor kurzer Zeit zerbrochen hier
im Kunstverein an. Er kann nicht
aufgestellt werde und wandert so als
Ausschuß in mein Atelier, mir beim
täglichen Anblick Ärger zu bereiten. Che miseria!
Nun, mein lieber Schmitt, leben Sie wohl.
Seien Sie und die Ihren herzlichst gegrüßt

von Ihrem Kolbe.

Darf ich um Ihre eigene Adresse bitten?

Anmerkungen

  1. auch Keulenschwinger, Werk Georg Kolbes, 1900, verschollen