Inhaltsangabe
Transkription
(Regentenstrasse 20)
15. Jan 08
Lieber Freund in Rochlitz, wirklich?
Und in der Studentenbude? Es kann ja
nicht anders geworden sein. Als gute Seite
Deiner Lage stelle ich mir die schöne
einsame Zurückgezogenheit vor, so ganz
das Gegenteil von unseren Berliner Tagen.
Ich meine, Du musst ganz bei Dir und
mit Dir sein, soweit Dein Denken nicht den
Deinen gilt. Gerade eben in dieser erbärmlichen
Kleinstadt, wo so garnichts unbekannt und
fremd scheint. Es nötigt solches Dasein
zur Einkehr in sich, während man sich
hier in der lebenden grossen Welt nicht
mehr auf sich selbst besinnen kann, so
viel will man erlangen, erjagen, er-
forschen.
Aber vielleicht gehören Dir Deine Tage ebenso-
wenig, und alberne Menschen beschnüffeln
in Dir den Neuling. Ich fürchte das, wie
ich Dir das erstere wünschte.
Du solltest noch vor Weihnacht einen Brief
bekommen, aber das Fest hat uns doch
mehr beschäftigt als früher. Zunächst hatte
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ich mit meiner Gruppe(1) viele Not, auch
war ich in Leipzig, um ein Richter-Kind(2)
zu modellieren (3 Tage, infolgedessen Honorar
wie Kammersänger). Nach Weihnacht
hatte ich dann die die gute Selbstentschuldig-
ung, dass Du doch mit den Umzugs-
gedanken anderes zu tun hattest als
Briefe von mir zu lesen.
Und nun ist ein Monat vergangen, seit
Deine freundlichen Worte bei uns ein-
trafen, und ich weiss nicht mehr, oder
noch nicht, wovon ich Dir berichten sollte.
Es passiert hier Alles, höchst Wichtiges
und wiederum nichts, eben ebenso
wie Du es in der Zeitung liesst [sic], die
morgen wertlos geworden ist.
Fast genau so wird es auch mit der vielen
unüberschaubaren Litteraatur sein, die
Dich so in Erstaunen setzt. Wahrhaftig,
dass [sic] Angebot der Produkte geht in das
Phantastische. Mir schwindelt auch, und
man soll besser nichts davon wissen,
aber es verursacht mir doch manche
nervöse Stunde, weil ich mir misstraue
und anderen vertraue.
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Sag mal, kennst Du „Geschwister Tanner“
von Robert Walser(3)? Bei Bruno Cassirer(4)
verlegt? Eben las ich es zu Ende und meine,
dass es ein sehr anziehendes Buch ist.
Sehr jung und unreif, aber sehr voll von
angenehmster Freude am Leben. Den
Autor kennen wir sehr gut, er ist oft
mit uns zusammen und deckt sich
vollkommen mit dem Buch.
Liest Du viel Wedekind(5), oder besser kennst
Du ihn? Was sagst Du zu ihm? Ich muss
jedes Wort von ihm lesen und finde doch
noch kein klares Urteil. Ein höchst unsym-
pathischer Patron und doch! –
Vorigen Monat hatte ich eine Ausstellung
bei Osthaus(6), die manchen finanziellen
Erfolg versprach. O. schrieb angenehme
Briefe, leider ist die Sache resultatlos
verlaufen; Später soll es nachgeholt werden.
Indess [sic] bin ich misstrauisch geworden, weil
eine Kritik in einem Hagener Blatt erschien, und die von Osthaus selbst zu sein scheint
und mir sehr missfällt; da wird mir Vieles zu-
getraut, aber trotzdem gezweifelt im Vergleich
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zu der „Stilbewusstheit und Sicherheit des
jungen Haller(7), von Maillol(8) ganz zu schweigen.“
Das ist fatal! oder besser zeigt mir die
fatale Richtung des neuesten Geschmackes
der besten Kenner. Kessler(9) reist überall
herum mit Photos von Maillol! Gewiss
sehr gut, sehr fein – aber nicht ein Mensch
kommt zu mir, aber nicht einer, denn
ich bin Deutscher, ja sogar Sachse!
Habe mir übrigens selbst eine kleine Maillol-
Bronze(10) gekauft. Du wirst lachen nach dem
Vorhergesagten. –
Meine grössere Arbeit, die Brunnen[-]Gruppe(11),
ist in Gyps fertig, nun fehlt noch das
Postament, welches mir sehr wichtig
erscheint. Ich kann Dir leider keinerlei
Photo schicken, weil nichts getan ist.
Augenblicklich traue ich mir selbst nicht
viel zu, und Du verstehst, dass mir da sehr
übel zu Mute ist.
In Famiglia sta tutto bene – Nora(12) zählt
fein französisch, Ben(13) singt viel etc. Wenn
doch der Frühling bald käme! Sage Deiner
Frau und Justus herzlichste Grüsse von uns.
Augenblicklich ist hier Wahlaufregung in der Secession,
ich soll auch in den Vorstand, aber aber! Dein Gg K.