Transkription

Rom am 27.Jan. 99.
54 via Margutta.

Lieber Graf!

Also jetzt habe ich es so schön,
daß ich mir jeden Tag Modell
halten kann. Mit wahrem
Heißhunger stürze ich jetzt immer
auf das Zeichenbrett. Ich sowie
Modell erleiden heftige Qualen,
aber der Mann ist geduldig, und
ich will es so.

Es ist aber doch sehr peinlich,
wenn täglich immer größere
Massen von Schuppen von den
Augen fallen und die Finger
nicht mit können. Das Blindsein
war zu schön, und ich glaube, daß
ein Mensch, der sehen lernte,
nie mehr froh werden kann,
natürlich nur auf diesem Gebiet,
meine ich. Wer aber nun kein anderes
hat? Oh wie schlimm und schwach.

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Greiner(1)’s Zeichnerei ist allerdings
enorm. Er wird aber auch, wenigstens
hier in Rom, sehr vergöttert. Der Mann
ist überall Herr; es ist mir heute
geradezu ein Wunder, daß er sich so
collegial zu mir herabläßt; denn ich
sehe, wie ruppig er Anderen gegenüber ist.
Und ich kam damals nicht eben bescheiden
in sein Atelier. Es entstand ein leb-
haftes Wortgefecht.

Jetzt ist Greiner bis Ende Februar verreist
nach Basel, M Frankfurt (wo er bei
Thoma(2) war mit dem Bildhauer Tuallion(3) [Tuaillon]
oder wie der Mann geschrieben wird), Leipzig
und München. Dann will er
sein Bild „Odysseus und die Sirenen“
in Angriff nehmen. Bis jetzt arbeitete
er an den Studien und außerdem
hat er eine Steinzeichnung (Einbandecke
Titelblatt für seine Lithographien) gefertigt.
Zu mir ist er öfter gekommen
und hat mich „heruntergeputzt“, aber
er ist doch immer riesig fein
und gefällt mir. Ihre Grüße werde ich
später dann ausrichten.

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Die Zeit meines hiesigen Arbeitens
füllten bis jetzt in der Hauptsache
Studien nach Modell; was jetzt also
noch mehr zur Ausbildung gelangen wird.
Ich habe d. M.[das Modell] immer eine Woche, täglich
4 Stunden, oft auch 8, aber das halte ich
kaum aus; denn es ist eben ein großer
Unterschied, ob man allein arbeitet oder
in einer Schule. Ich spanne alle Kräfte
an, und das macht natürlich müde.
Gestern Nachmittag haben wir tatsächlich
beide, ich u. M. [und Modell], gestöhnt und hielten es
nicht länger als bis zur 7. Stunde aus.
Aber ich hoffe, daß ich vorwärts komme, wenn
nicht, so bin ich talentlos.

An kleinen Kompositionen arbeitete ich
bisher 4 Blatt; die allerdings schon bedeutend
mehr Zeit in Anspruch nahmen als die
früheren Sachen. Ich zeichnete sie auch aus
dem Kopf, denn es geht einfach nicht,
lange Studien zu machen, wenn man
die Kompositionen mit so geringen Mitteln
ausführt. Wenn Greiner wiederkommt,
will er mich ins Steinzeichnen einweihen.

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Da freue ich mich schon sehr darauf.

Dann will ich alle Kompositionen mit
Modell gehörig ausführen; auf einem
Stein kann man M monatelang
arbeiten, aber mit Papier geht das nicht so,
zuletzt kann man es nicht mehr
so ersehen. Greiner sagt, die Steinzeichnung
würde für meine Sache ausgezeichnet
passen, besser als die Radierung.
Nun, das wird sich also finden.

Viel Zeit verwandt[e] ich bis jetzt auch
auf ein größeres Oelbild. Es ist die
gleiche Komposition, welche die Fürstin
Oettingen-Wallerstein(4)
besitzt. „Auf d.
Fahrt zum Licht“. Sie werden sich entsinnen.
Nach meinem Können arbeitete
ich erst die nötigen Studien und zeichnete
dann einen Carton in Größe des
Bildes. Die Figuren sind lebensgroß.
Das Papier wurde dann so zerkratzt,
daß ich schließlich mit der Leinwand
anfing und in einem Zug die

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Geschichte heruntermalte. Ich brauchte
14 Tage mit täglicher 8stündiger Arbeit.
Nur so kann nach meinen Ideen
ein Bild gut und frisch werden.
Selbstverständlich hält das gar nicht davon
ab, daß das Meine schlecht ist.
Ich merkte beim Malen zwar, daß
ich mit dem Pinsel viel leichter
zu arbeiten vermag; die Zeichnung
wurde entschieden in Farbe besser als
auf dem Carton.

Freilich, das ganze Ding ist mordsseltsam
geworden. Greiner hat es noch gar nicht
gesehen, nur den Carton, und da trieb er
mich immer an, noch länger Modell
zu nehmen. Bisher sah es nur der Dr. Hartwig(5),
den Sie vielleicht auch kennen; es
ist ein Freund von Klinger(6) u. Greiner,
und dieser Mann ist sehr erschrocken
über die Farben.

Das Bild, was ich in der Mühle damals
arbeitete, ist allerdings bedeutend
brutaler und xxxxxxx anmaßender, aber ich

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muß gestehen, daß ich auch diesmal
nicht zurückhaltend war.

Übrigens kann der Dr. Hartwig auch
die Klingerschen Farben nicht ansehen, und
ich weiß auch, wie ich einstmals vor
der Pieta erbleicht bin.

Man darf nicht zu streng mit mir
sein, es ist ja selbstverständlich, daß
sich alles abschleifen wird. Aber ich kann
meine Ideen, die ich vom Malen
habe, zunächst noch nicht anders vortragen,
als daß ich die Farben möglichst un-
gemischt von der Palette nehme.
Auf keinen Fall fange ich mit
Druck zu malen an, nur um nicht
so herauszuplatzen! Lieber will
ich herb brutal und sonstwas
erscheinen. Wartet nur ruhig.
Zunächst gedenke ich meine Ideen
nicht zu ändern, kann es überhaupt
nicht, weil mich niemand eines
Anderen zu überzeugen vermag.

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Ich weiß jetzt besser als je, daß
ein Bild, damit meine ich eine
Malerei, niemals kann zu gleicher
Zeit als Zeichnung hochstehen.
Beides auf gleicher erster Höhe in einem Werke,
das gibt es nicht. Man soll darin nicht
töricht sein. Aber es sind es fast alle.
Greiner weiß das auch, aber doch fängt
er an, zu malen. Der soll lieber lithographieren,
der wird nie so gut malen als zeichnen.
Bei Klinger ist es fast so, doch ist dessen
Zeichnung auch schon malerischer.
Böcklin(7) ist der einzige Vernünftige darin.
Der weiß, wozu er da ist.

Wenn Greiner ein Bild malen will,
so soll er dann wenigstens das
Hauptgewicht auf Farbe legen, das ist ja
nicht schwer; doch er will natürlich
auch das Hauptgewicht auf die Zeichnung
legen, und so wird es eine ausgemalte
Zeichnung werden.

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Doch was habe ich da alles zusammen
geredet. Verlassen wir das!
Sie malen also, lieber Graf? Ist
Whistler(8) fein? Das sollte Linde(9)
wissen, der würde sich gewiß auch dort
festsetzen. Warum halten Sie sich
nur nicht selbst Modell, ich verstehe
das schwer. Es ist ja eine Lust und
doppelter Gewinn, allein zu arbeiten.
Komponieren Sie auch Einiges?
Wollen Sie noch lange in Paris bleiben?
Sie sollten nach Rom oder Florenz
kommen. Es ist ja alles zu gut.
Und diese braven Modelle.
Sie wollten doch im Frühling Rom
besuchen? Wird das etwas?
Ist Coblanz(10)[?] in Paris? Und Richter(11)?
Bitte grüßen Sie beide, wenn das der
Fall wäre. Hier zieht der schöne
Lenz ein, die Singvögel sind schon so
lebendig und die ersten Baumblüthen
brechen auf. Die Luft ist herrlich, aber
ich habe sehr wenig davon. Vor 5 Uhr Abends
komme ich kaum an die frische Luft.

[Einfügung linker Rand senkrecht]

Am 25./I erhielt ich durch die Bank Guet & Cie. die 100 Lire Note u. sende Empfangsschein.
Seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem Georg Kolbe
in Rom.

Anmerkungen

  1. Greiner, Otto (16.12.1868, Leipzig – 24.9.1916, München), Maler, Grafiker

    http://d-nb.info/gnd/118718762
  2. Thoma, Hans ( 2.10.1839, Oberlehen, Bernau – 7.11.1924, Karlsruhe), Maler, Grafiker

    http://d-nb.info/gnd/118622064
  3. Tuaillon, Louis (7.9.1862, Berlin – 21.2.1919, Berlin) Bildhauer, Mitglied der Berliner Secession und des Deutschen Künstlerbundes

    http://d-nb.info/gnd/119094371
  4. Maria Fürstin zu Oettingen-Wallerstein, Person im Umkreis Georg Kolbes, ohne weitere Angabe

  5. Hartwig, Paul (18.2.1859, Pirna – 3.8.1919, Gaschwitz bei Leipzig), Archäologe, Kunstammler und -händler

    https://d-nb.info/gnd/119200457
  6. Klinger, Max (18.02.1857, Leipzig – 04.07.1920, Großjena), Künstler, Maler, Radierer, Grafiker, Bildhauer

    http://d-nb.info/gnd/118563335
  7. Böcklin, Arnold (16.10.1827, Basel – 16.1.1901 in San Domenico bei Fiesole), Maler, Zeichner, Grafiker und Bildhauer

    https://d-nb.info/gnd/118512374
  8. vermutlich Whistler, James Abbott McNeill (11.7.1834 in Lowell, Massachusetts – 17.7.1903 in Chelsea, London), Maler

    https://d-nb.info/gnd/118632124
  9. vermutlich Hermann Linde (26.8.1863, Lübeck – 26.6.1923, Arlesheim), Maler

    https://d-nb.info/gnd/119393387
  10. Unbekannte Persönlichkeit im Umfeld Georg Kolbes

  11. vermutlich Richter, Giacomo Gustav (1869 – 1943), Maler, Schriftsteller, Sohn des Malers Gustav Richter (1828 – 1884)