Transkription

1. Juni 1926.

Lieber Freund,

Du hast doch etwas versäumt! Die Enthüllungs-
feier war sehr schön. Der Bericht in der
Frfter Ztg. [Frankfurter Zeitung], die Wiedergabe meiner Ansprache
sind richtig und ich brauche selbst – obwohl
ich es möchte – nicht viel hinzuzufügen.
Von ganz atemberaubender Wirkung – eine
Frau fiel einfach um – war der Augenblick,
als das angerufene Denkmal(1) sich ent-
hüllte, die Hülle wahrhaft abwarf.

Ich hatte eine den ganzen Stein bis auf
die Stufen bedeckende weite Kappe anfertigen

Seite 2

lassen, die von vorn nach hinten, gerade
über die Mitte des Steins und Reliefs,
in zwei Hälften glatt auseinanderfallen
mußte, wenn man an einer Reißleine
die unter der Naht hinlief, riß.

Dies gelang glänzend. Die Hülle fiel
nach rechts und links von den Schultern
des Steins und es war wirklich, daß „der
Vorhang des Tempels zerriß von oben bis
unten.“ Rechts und links flankierten
während der Ansprache zwei schlanke
Kerle der freiwilligen Feuerwehr in schwarzen
Stahlhelmen (den Kriegshelmen, die ja
eine ausgezeichnete Form haben), stillge-
standen. Während die Musik „Deutsch-

Seite 3

land, Deutschland über alles“ spielte, legte ich
den ersten Kranz der Kriegsteilnehmer,
dunkle violette Stiefmütterchen in ungeheurer
Fülle, nieder, der lange – wie ich es mir ausge-
dacht hatte –allein blieb.

Alles andere mögen die Anlagen erzählen.
Dir vielen, vielen Dank: Dein Werk ist herrlich.
Swarzenski(2), Wicherts(3) u. a. waren Zeuge
Deines Triumphs. Die Wirkung ist selbst
für wenig Empfindende sehr stark.

Leb wohl! Leider ist es vorüber! Für
mich war es ein langer beschwerlicher Wg.
Aber am Ende wars der Sieg des Besten und
der Besten auf der ganzen Linie. Es hat
mir Freude gemacht, daß Du dabei warst.

Seite 4

Dir und den Deinen die herzlichsten
Grüße von mir.

Dein Binding

Anmerkungen

  1. Werk Georg Kolbes, "Denkmal zum Gedächtnis des Großen Krieges", 1925

  2. Swarzenski, Georg (11.1.1876, Dresden – 14.6.1957, Brooklin bei Boston, Massachusetts), Kunsthistoriker, ab 1906 Leiter des Städelschen Kunstinstituts Frankfurt am Main, ab 1907 auch der Städtischen Galerie im Städel, ab 1928 Generaldirektor der Frankfurter Museen, 1938 Emigration, Professor in Princeton, Kurator der MA-Abteilung des Museum of Fine Arts, Boston

    http://d-nb.info/gnd/119020602
  3. Wichert, Friedrich Karl Adolf (Fritz) (22.8.1878, MainzKastel – 24.1.1951, Kampen (Sylt)), Kunsthistoriker, Direktor der Mannheimer Kunsthalle, ab 1923 der Frankfurter Städelschule

    http://d-nb.info/gnd/118632248