Transkription

Florenz,
d. 24. 12. 35.

Mein lieber Kolbe,

Wir feiern heute Abend hier Weih-
nachten – dies muss halt einmal
so sein. Die Kindereindrücke
beherrschen uns ja auch sonst
unser ganzes Leben und an diesem
Tage halt besonders. Ida hat
einen grossen Baum besorgt.
Da den Italienern dies streng
verboten ist, haben wir ein
hochoffizielles Schreiben von der
Regierung ausgestellt bekommen,
dass uns dieser Ankauf erlaubt
ist. Ich lächele zwar über die
Geschäftlichkeit, mit der Ida
den Weihnachtszauber hier

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entstehen lässt, aber angeregt
dadurch wird halt auch die Schenk-
lust in mir wach, und ich sage
ja zu den, zwar bescheidenen, aber
wie mir’s scheint, für meine Mittel
viel zu hohen Ausgaben. Da wir
in grosser Herzlichkeit zu Ihnen
stehen, müssten Sie heute etwas
mit geschenkt bekommen. Aber
wir sind ja keine vorausdenken-
de[n] Menschen, vor acht Tagen
hätten wir dies schon erledigen
müssen. Also lieber Kolbe, nun
müssen Sie vorlieb nehmen
mit unserer Absicht. Da ich
nun schon einmal dabei bin,
Empfindungen auszusprechen,
welche man sonst für sich be-
wahrt,

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möchte ich Ihnen sagen, dass Sie
uns in den letzten Jahren ein
besonders lieber Mensch geworden
sind, und wenn Ida u. ich an Sie
denken oder von Ihnen sprechen,
wir die grösste Herzlichkeit da-
bei für Sie empfinden.

Der Aufenthalt hier ist {nicht} ohne Sinn
für mich, ich habe die stille Ver-
träumtheit hier gefunden, wie sie
für die Arbeit notwendig ist. Die
Landschaft, wie alles typisch Italien-
ische, ist mir {jedoch} fremd. Im Gegensatz
dazu begreife ich um so klarer
unsere eigene Geistigkeit und Ge-
sinnung. Der Italiener schmückt,
dekoriert, er hat einen ausgesprochenen
(vorwiegenden) Sinn für die Fassaden-
schönheit, sodass am Ende Giebel-
dach, Fenster, Türen, Säulen, Pilaster
u.s.w. nur noch zum Zierrat werden.

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Bei uns muss Sinngebung in
Ausdruck und Gestalt eine organ-
ische, ineinander verwobene Ein-
heitlichkeit darstellen. Das romanische,
gotische, auch das griechische befriedigt
uns deshalb ganz in seinen voll-
ende[te]sten Schöpfungen. Oder, um
nur ein paar Namen zu nennen,
bei Grünwald(1), Rembrandt(2)Bach(3)
finden wir die gleiche Einheitlichkeit
mit letzter Konsequenz verwirklicht.
Wie wir vor einem Priester keine Au-
torität empfinden, wenn er nicht
seine Lebensführung mit seinen
Predigten übereinstimmt, so ist
uns auch eine Formgestaltung
ohne ursprüngliches Erlebnis fremd.
Von diesem gross gesehen[en] Gesichts-
punkt aus liesse sich auch das
Kunstschaffen der Gegenwart ins
deutsche Bewusstsein ordnen. und
Die verlogene, sentimentale Alter-
tümelei, diese Formgebung ohne Wahr-
haftigkeit, ist die Kehrseite deutscher
Geistigkeit. Ich wünsche Ihnen für[‘]s

[Einfügung linker Rand senkrecht]
kommende Jahr, dass {Ihnen} ein paar gelungene, stark
erlebte Werke erstehen. Mit herzlicher Freundschaft
Ihr Harth, auch Ida lässt Sie in der gleichen Weise
grüssen.

[Einfügung oberer Rand, Handschrift Ida Harth]
Lieber Herr Kolbe! Das einzige Gute ist, daß Philipp hier sehr fleißig ist,
sonst haben wir aber viel Heimweh, eigentlich immer. Es grüßt
Sie herzlich
Ihre Ida Harth