Transkription

Friedrichroda, Thür. Wald, d. 4.9.31.

Haus Rechlin, Herzogsweg 18

Sehr geehrter Herr Professor,

Sie werden erstaunt sein, von
einer fremden Person einen langen Brief zu er-
halten. Ich bin die Mutter von Eva Rechlin(1).
Bei deren Hiersein habe ich öfter Ihren Namen ge-
hört + meine Tochter sprach mit so großer Hoch-
achtung von Ihnen + sprach mit so heller Be-
geisterung von Ihren herrlichen Werken, daß
ich die Hoffnung habe, durch Ihren Einfluß kann
mein Kind auf eine vernünftigen Weg zurück-
gebracht werden. – Sie wissen, daß Eva der kommunist.
Idee verfallen ist + sie wird sich selbst verlieren,
wenn nicht eine starke Hand helfend ihr zur
Seite steht. – In mir selbst hat von Jugend aus
ein großes Gerechtigkeitsgefühl geherrscht + ich
konnte niemals mich mit der Tatsache ab-
finden, daß die untere Schicht des Volkes in
Entbehrung + Ungerechtigkeit leben muß – Ich
habe, besonders in meiner Jugend, gelitten unter

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dieser Tatsache. Meine Mutter empfand genau so
+ ihr Leben war einzig + allein Güte + Hilfsbereit-
schaft für arme Menschen. Von dieser Seite hat
Eva das warme Verstehen für Armut + von
Kindheit an hat sie, wenn sie Kinder leiden
sah, schwer gelitten. Sie selbst ist wie ein e
kleine Prinzessin aufgewachsen. Wir hatten ein
herrliches eigenes Heim, die schönsten Spiel-
sachen, überhaupt was man einem Kinde
nur antun konnte an Liebe + Kinderglück,
das hat sie von frühster Kindheit an gehabt.

Sie war ein ungemein ernstes Kind – nebenbei
ein bildhübsches Kind mit hellblonden Locken
+ großen dunklen Augen. Sie war mein ganzes
Glück. – Durch den verlorenen Krieg sind wir
arm geworden – ein großes Vermögen ist ganz
hin + unser Leben ist sehr sorgenvoll geworden.
Eva wollte so gern viel lernen – sie hat ein
ganz gutes Zeichentalent + wollte Reklame-
zeichnerin werden – die Mittel zur Ausbildung
fehlten – sehr kurz hat sie sich durchschlagen
müssen, auf alles verzichten müssen, was ihr
von Kindheit an als eine Selbstverständlich-
keit erschien – oft, sehr oft, nicht das Geld zum
Allernötigsten gehabt. – Ich weiß nicht, was Eva

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in ihren kommunistischen Ideen derartig be-
stärkt hat, aber als sie jetzt zu Hause war,
war ich in großer Sorge, wie das wohl werden
wird, wenn sie nicht abgelenkt wird von
dieser Sache, die sie ganz gefangen nimmt.
Ein so begabtes, reines Menschenkind +
hat nichts, garnichts von ihrer Jugend. Na-
türlich bleiben auch Disharmonien in der
Familie nicht aus. Mein Mann steht völlig
rechts, mein Sohn ist Nazi natürlich – ich
stehe mitten darin, kann weder das eine
noch das andere ganz verwerfen, die Kirche
z. B. gibt mir nichts + doch – die große Masse
läuft hin. Eva ist anderer Meinung. Na –
es ist darüber so viel zu sagen, daß man nicht
erst anfangen sollte. – Eva sieht in Russland
das gelobte Land – ich höre nur das Gegenteil,
wäre es vielleicht doch gut, wenn Eva sich
zunächst überzeugen würde von diesem
Idealstaat? – nun sieht sie Arbeit in Ber-
lin + wenn es ihr gelingt etwas zu finden –
was wird es sein? Können Sie ermessen,
in welcher Lage ich hier bin? Wie Sie viel-
leicht wissen, habe ich hier eine Fremdenpension,

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Es ist ein elegantes Haus + bisher gut besetzt,
doch diese Saison ist überall sehr mäßig +
mit Besorgnis sieht man dem Winter entgegen.
Ich bin leider nicht in der Lage, meine Tochter
dann zu unterstützen + ich bitte Sie, wenn
die Rede darauf kommt, sie zu beeinflussen,
daß sie den Winter nach Hause kommt. –

Wie am Anfang meines Briefes, so wiederhole
ich meine Bitte an Sie, sehr geehrter Herr
Professor, zu versuchen, Eva auf einen ver-
nünftigen Weg in politischer Beziehung zu
führen, ich weiß keinen Menschen aus ihrem
Bekanntenkreis, der es sonst tun könnte.
Ich muß Ihnen aber das Versprechen ab-
nehmen, meiner Tochter von diesem Brief
nichts zu sagen, sie würde es mir ein Le-
ben nicht verzeihen, wenn sie erführe, daß
ich mich in meiner Sorge an Sie gewendet
habe. Mit der Bitte, meine Zeilen richtig zu
verstehen, bin ich mit verbindlichen Grüßen

Ihre ergebene
L. Rechlin.

Anmerkungen

  1. Rechlin, Eva (1908 – 1999), Tänzerin und Modell von Georg Kolbe