Transkription

21.10.45

Lieber Kolbe, da ich mich
augenblicklich noch nicht anders
als brieflich mit Ihnen unter-
halten kann, hatte ich's schon längst
tun wollen. Nun ja, Sie wissen,
die Anforderungen der scharmanten
Zeiten lassen einem zum Wichtigsten
keinen Raum. Ich war kürzlich
in Weimar – die Bahnfahrt eine
neue Variante der Höllenstrafen –
um nun die dortigen Möglichkeiten
zu beaugenscheinigen. Das Angebot
ist mehr als günstig zu benennen,
die Hochschule wird – od.[oder] soll ganz im
Sinne des Gropiusschen Bauhauses
aufgezogen werden, auch mit etwas
mehr Diplomatie u. Schläue, als es
s. Zt.[seiner Zeit] Gropius(1) tat. Trotzdem sehe

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ich dorten manche Schwierigkeiten
wieder eines Tages heraufkommen.
Abgesehen davon, man kann sich
doch nicht nach Weimar setzen, auf
meine alten Tage werde ich mich kaum
dort einwurzeln können. Die Stadt
wimmelt von Asiaten. Die Zerstörungen
sind nachdem, was wir sonst ge-
wohnt sind, nicht gross.

Ich komme leider recht wenig
zum eigentlichen Arbeiten, abgesehen
von den Materialfragen, die hier
vorläufig nicht zu lösen sind.
Wie schaut es eigentlich bei Ihnen
aus, lieber Kolbe. Hat etwas an
Ihrem Bau ausgeflickt werden
können – schon rutschen wir in
den Winter, u. meist ist in dieser

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Richtung nichts geschehen. Die
vielen Reden haben kein Dach heil
gemacht – es ist mir eine greu-
liche Vorstellung, dass Sie höchst
missgestimmt dort hocken müssen.

Unser Dach ist auch noch nicht
wieder heil, ich habe es notdürftig
ausgeflickt, wenigstens haben
wir wieder Fenster bekommen, was
schon märchenhaft ist.

Wie geht es mit Ihren Augen
– Sie haben nichts darüber erwähnt.

Seien Sie vielmals herzlich
von uns gegrüsst, insbesondere
von Ihrem alten
SRottluff

Anmerkungen

  1. Gropius, Walter (18.5.1883, Berlin – 5.7.1969, Boston, Massachusetts), Architekt und Gründer des Bauhauses

    http://d-nb.info/gnd/118542443