Transkription

D.[Dresden] 27.11.02
Bendemannstr. 15 I.

Lieber Kolbe, Ich habe mich mit meiner Frau sehr
über die frohe Nachricht gefreut, die Sie mir geschickt haben.
Leonore(1) möge fröhlich gedeihen und Ihnen weiter Freude
machen. Es ist freilich sonderbar genug, sich bewußt zu
werden, daß ein neues Wesen mit großen und ernsten
Ansprüchen auf einmal da ist, geliebt wird, und, wie zu
hoffen, selbst zur Liebe und Daseinsfreude erwachsen
soll. Wie mag das Gefühl der Einheit des Selbst mit
der ganzen übrigen Welt sich sonst zu so klarer und
stolzer Selbstverständlichkeit erheben als beim ersten
Aufkeimen der Elternliebe. Ich empfinde das mit Ihnen,
und die helle Äußerung Ihrer selbstlosen Freude
bringt mich Ihnen sehr nahe. Möge Ihr Glück Bestand
haben, worauf niemand fester vertrauen kann als
ich, der ich Ihre Kamp[f]lust und Ihre Gesinnung gut

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genug kenne. Ihr Brief hat mich in jeder Hinsicht
erfrischt und aufgerichtet. Ich fange an, so festes Zutrauen
zu Ihnen zu gewinnen, daß auch die Scheu, von der ich
das letzte Mal sprach, schwindet. So soll es bleiben.
Die Aussicht auf Ihren Besuch macht uns beiden sehr viel
Freude. Nur bitte ich ja, diese Angelegenheit nicht in
den Vordergrund zu spielen; Sie werden wohl manches
nötiger zu thun haben als nach Dresden zu kommen.
Achten Sie bitte auch sehr vorsichtig auf Ihre liebe Frau.
Sie schrieben so sicher über ihr Wohlbefinden, daß ich mich
herzlich freue. Aber die sorgfältige Pflege und größte
Schonung wird Ihr [ihr] noch für lange nötig sein; eine Unacht-
samkeit kann sich leicht rächen. Deshalb bitte ich dringend,
ja nicht sie zu verlassen, wenn Sie ihr irgend von Nutzen
sein können. Wir treffen uns dann später. Meine

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Frau und ich schicken an die Mutter besonders herzliche
Grüße.

Gestern hätten Sie zu einem Vortrag hier sein sollen, den
Thode(2) hier über Kunst und Religion hielt. Ich ging hin,
obwohl ich wußte, was zu erwarten war, erstaunte mich
aber doch, noch eiteleres Gewäsch zu hören, als ich geglaubt
hatte. Das Ganze gipfelte natürlich in Wagner(3)s Verhim[m]-
lung. Den Namen aber nannte er nicht, das war „ER“,
nur aus dem Zusammenhang mit dem geheiligten
Boden Bayreuths, wie er sich ausdrückte, ahnte die
Menge, wo er war. Dabei die unverschämtesten Sachen,
die ich je gehört habe. Man musste ihn hören, um zu begrei-
fen, daß Goethe im Grunde ein christlicher Dichter war, der
nur die Überleitung von dem streng lutherischen Protes-
tantismus zu Wagner bildet. Wann, sagen Sie mir doch

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das, wann kommt ein Mann, der diese Höhlenbären
wieder von der Bühne verjagt, auf der sie sich breit machen?
Auch er hatte natürlich ein fertiges Programm, wie es ###
werden muß. Beruhigen Sie sich, es hilft alles nicht, eine
neue Ära der Religiosität bricht an, Thode ist der Prophet,
und der Graal in Parsifal ist die Kaaba. So habe
ich mich lang nicht mehr innerlich aufgelehnt wie gegen
dies dreiste Zeug, das da von dem Jesuitenpater der Cosima(4)
vorgebracht wurde. Sie werden sich zudem freuen, von
einem Mann zu hören, der hier Tausende gestiftet hat, damit
für alle Volks- und Schulbibliotheken Chamberlain(5)s Grund-
lagen angeschafft werden können.

Ich möchte versöhnlich schließen, wie ich gestimmt bin, heute
Abend nach einem sehr schönen Konzert, daß Strauß in
unserem Mozartverein gab, und biete Ihnen deshalb noch
freundlichst eine treffliche Chaiselongue in Ermangelung eines Bettes
an, falls Sie wirklich kommen. In treuer Freundschaft Ihr H. S.

Anmerkungen

  1. Leonore, Tochter Georg Kolbes (19. 11.1902, Leipzig - 28.06.1981, Berlin)

  2. Thode, Henry (13.1.1857, Dresden – 19.11.1920, Kopenhagen), Kunsthistoriker, Hochschullehrer

    http://d-nb.info/gnd/119116898
  3. Wagner, Richard, Komponist, hier: Werk von Max Klinger

  4. Wagner, Cosima (24.12.1837, Bellagio – 1.4.1930, Bayreuth), Ehefrau Richard Wagners, gesch. von Bülow

    http://d-nb.info/gnd/118628232
  5. Chamberlain, Houston Stewart (9.9.1855, Portsmouth – 9.1.1927, Bayreuth), Schriftsteller, in zweiter Ehe verheiratet mit Eva Wagner (Tochter von Richard und Cosima Wagner).

    http://d-nb.info/gnd/118675508