Transkription

D.[Dresden] 6. Mai. 02 [Jahreszahl von anderer Hand zugefügt]

Lieber Kolbe, über Ihr Kommen machen Sie sich
ja keinen Gedanken. Ich erwarte Sie nicht, ich hoffe
vielmehr, Sie im Sommer wieder in Leipzig auf-
suchen zu können, wohin ich wahrscheinlich zum An-
fang meiner Ferien kommen werde. Inzwischen
schreiben Sie bitte ab und zu, und seien Sie ver-
sichert, daß ich gar nicht damit rechne, Sie jetzt hier
zu sehen. Ich hielte es für sehr unrecht, wenn Sie
kommen, bevor Sie in Leipzig sich so fest eingerichtet
haben, daß Sie einen gewissen Fortgang Ihrer
Arbeit vor sich sehen. Sie schrieben mir jetzt in

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etwas gedrückter Stimmung, die aber gewiß nur vor-
übergehend war. Der Harrachsche Auftrag kann sich ja
nur etwas verzögern. Nach den Einleitungen ist ja
ein Zurückziehen gar kein Gedanke. Ich glaube Ihnen
aber wohl, daß viel Geduld dazu gehört, um immer
wieder zu warten und keine Möglichkeit zu haben, die
Schaffenslust zu bethätigen, noch dazu bei deutschem
Maiwetter in Leipzig. Ich denke selbst mit Schmerzen
an Italien; wie mag erst Ihnen zu Mute sein.

Ich habe mich hier für den Herbst eingemietet. Mit
dem kleinen Haus ging es doch schließlich nicht; es that
mir umso mehr leid, als ich nun, gerade wie Sie, in
eine neue sehr lederne[?] Wohnung muss, wie sie

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eben meist sind. Es kommt ja freilich nicht darauf
an und soll trotzdem sehr schön werden, wenn Sie
später mit Ihrer Frau kommen. Meine Braut ver-
reist gegen Ende des Monats auf mehrere Wochen,
was mir recht lieb ist. Es wird die Zeit vor der
Heirat doch abgekürzt, und die ist peinlich gering,
besonders wenn man, wie ich, hier dabei täglich so viele
Stunden das Gögelwerk(1) treten muß. – Von der
Kunst höre ich so gut wie nichts. Klinger(2)s Beethoven
liegt überall in Photograp[h]ien aus, die mir trotz
dem, was Sie sagten, sehr gefallen. Der Eindruck der
Arbeit selbst ist freilich schwer danach zu beurteilen,
da die Photographien durch ihr falsches Licht

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die Silhouette gewöhnlich viel zu stark hervorheben.
Die stark barocken Zutaten müssen Klinger schon
lange zu gut gehalten werden.

In Ihrer Berliner Angelegenheit bin ich bisher noch
ohne Antwort geblieben.

Wenn Sie noch wie im Winter bei mir wären, müßten
Sie viel Indisches über sich ergehen lassen. Eine Bhagavad
Gita(3)
ist angeschafft.

Ich bitte, Ihre Frau sehr herzlich zu grüßen. Ich freue mich
darauf, mit ihr gelegentlich näher bekannt zu werden,
als dies bei meiner Schwerfälligkeit am ersten Abend
möglich war.

Werden Sie Ihren Schnupfen bald wieder los. Daß Sie
welchen haben, darf ich wohl annehmen.

In treuer Freundschaft. Hermann Schmitt

Anmerkungen

  1. Antriebswerk für Dreschmaschinen, das getreten werden muss, 19. Jh.

  2. Klinger, Max (18.02.1857, Leipzig – 04.07.1920, Großjena), Künstler, Maler, Radierer, Grafiker, Bildhauer

    http://d-nb.info/gnd/118563335
  3. Bhagavad Gita, der Gesang Gottes, ist eine der zentralen Schriften des Hinduismus, ein spirituelles Gedicht, 5.und 2. Jh. V. Ch.