Transkription

Berlin W 15. Konstanzerstr. 58.

Verehrter Herr Kolbe!

In dieser schwarzen Zeit soll man niemandem
auch nicht die kleinste Freude vorenthalten, die
man ihm machen könnte. Und deshalb
lasse ich Ihnen dieses Blatt zugehen.

Sie kennen mich nicht. Sie kannten
auch das Mädelchen nicht, das dieses Blatt
schrieb.

Dem Mädelchen wurde einst als Fünfjzehn-
jähriger in der Schulklasse als Aufsatzthema
die Frage vorgelegt: „Wie steht Ihr zur
Kunst?“ All die Klassenkameradinnen
wählten Musik oder Malerei; sie als
Einzige Plastik. Ich, die Mutter, bin Bre-
merin, und wir hatten einst Ihre „Tänzerin(1)
in der Bremer Kunsthalle gesehen – –.

Ich denke, es muß Sie vielleicht
beglücken, zu sehen, wie tief selbst in
Kind sich in Ihr Werk vertiefen
konnte – –.

Jetzt ist dieses mein Kind gestorben.
Mit 22 Jahren. Als Braut. Dieses
feine kultivierte Wesen war –
mein Kunstwerk. Nun bleibt

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meinen Tagen kein anderer Inhalt, als
den unendlich feinen literarischen und
dichterischen Nachlaß meines Kindes
– vor 3 Jahren verunglückte ihr
einziger 27jähriger Bruder tödlich – zu
ordnen. Schon unter den Schulaufsätzen
finden sich Perlen.

So fand ich dies Blatt. Die unver-
stehenden Korrekturen des Magisters
werden Sie nicht stören. Aber – wie
gesagt – vielleicht haben Sie eine
leise Freude in dieser schwarzen
Zeit. Dann trenne ich mich
gern von dem mir so lieben Blatt.

Ihre ergebene
Heide Schröder.

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[Beilage: Schulaufsatz Heide Schröder vom 24.6.24]

Verbesserung.

Inland, Inland, Inland.

2. Hausaufsatz.

Warum liebe ich die Plastik?

In der Musik und Poesie gibt es Ausdrucksmög-
lichkeiten, die viel offener liegen als in der Plastik,
glaube ich. Man hat dur und moll, dumpf- uund hell-
tönende Vokale. In der Plastik aber kann man
nur in stummen Linien und Flächen arbeiten
und andeuten. –

Ich stehe vor einem Werk von Kolbe. – Eine Tänzerin
– – Geschloßene Augen, .. ausdrucksloses Gesicht, ..
die Hände etwas vorm Körper ausgestreckt. – ....

Langsam, ganz langsam lösen sich die Züge um den
Mund in unendlichem Weh. Das Wesen vor mir
steht in schwerem Kampf, Gefühle martern die Seele! –

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Da sucht es Befreiung, ... horcht ganz auf sein
Inneres und schwebt ernsten, lindernden, wei-
chen Tanz. – Äußerlich steht es in der selben er-
wachenden Bewegung, doch innerlich löst sich alles
Rasende, Schmerzliche in ein tiefes, glückliches Weben.
– – Meine Seele sucht sich zu ihm hin. Ich möchte
auch einmal heilige Erlösung empfinden können. –

Doch ich kann es nicht, bin nur ein schlichter
Mensch, dieses unbegreifliche Etwas aber ist ein –
Kunstwerk.

So ist mir jedes plastische Stück ein Erlebnis, ein
Ding, das über mir steht, weil es ein Kunstwerk ist.
Es gibt mir oft Musik, Poesie und Malerei zusammen.

– Ich höre Melodien und Worte, sehe Farben, wenn
es in mehr als nur äußerer Schönheit auf mich
wirkt.

[Ergänzung in Handschrift Heide Schröders]
von Heide Schröder
geb. 5.4.09.
gest. 26.7.31.

Anmerkungen

  1. Werk Georg Kolbes, "Tänzerin", 1911/12