Transkription

Villa Ridolfi d. 11.V.1902.

I

Lieber Kolbe

Es sind nun bald vierzehn Tage her,
dass Ihre Sendung in meine Hände ge-
langt ist, und noch bin ich nicht dazu ge-
kommen, Ihnen zu danken, da ich das
Haus voll Besuch hatte. Glauben Sie darum
nicht, dass ich mich weniger gefreut hätte,
Ihre grosse und schöne Arbeit(1) zu besitzen.
Aber Sie knüpften an Ihr Geschenk die Beding-
gung, dass ich Ihnen meinen Eindruck von
Ihren Zeichnungen rückhaltlos mitteilen sollte,
und das hat mich bisher hauptsächlich am

Seite 2

Schreiben gehindert. Meine Eindrücke sind
vor Ihrer Arbeit nämlich zu verschiedener
Art gewesen, als dass ich sie in wenig Worte
zusammen fassen könnte. Die grossen Voll-
bilder haben mir durchweg (vielleicht mit
Ausnahme des Erdgeistes und d einem
Teil des letzten Bildes) sehr große Freude
gemacht. Sie sind in ihnen einen grossen
Schritt vorwärts und über Ihre bisherige
Arbeiten herausgegangen, und vor allem die
„Engel“ machen für mich jede Kritik
überflüssig, weil ich nichts als „gross und
gut“ sagen könnte und es dem Künstler
gegenüber nicht nötig ist, den Eind Empfin-

Seite 3

dungen Ausdruck zu geben, die man von
ihm empfangen hat. Farbentechnisch scheint
mir der Ostermorgen ein ausserordentlicher
Fortschritt, ganz abgesehen von dem grossen Ein-
druck, den mir die Composition machte.
Ganz anders stehe ich den Textumrahmungen
gegenüber. Sie Mit ihnen kann ich mich, das
TextTitelblatt ausgenommen, garnicht befreunden.
Die Architektur gefällt mir nicht und die Figuren
sind nach meinem Gefühl nicht auf vereinfacht
genug, schliessen sich nicht genug dem Rahmen
an. Sie sollen wie der Chor in der Tragödie wirken
und sind dafür nicht typisch genug, weder in
ihrer Haltung u. ihrem Ausdruck noch in ihrer

Seite 4

Ausführung, die ich großlieniger fast orna-
mentaler wünschte. Die weiblichen Figuren
gefa sagen mir vor allem wenig, und die
Gewandfrage ist mir in der Lösung
oft zuwieder. Die unter dem Text stehen-
den Zeichnungen sind stehen mir viel näher,
vor allem die beiden: Faust beim Anblick
des Zeichens des Erdgeistes und Faust dem
{geschwundenen} Erdgeist sind sich in das Nichts nachgreifend.
Ihr Faust-Verlaine-Typus entspricht allerdings
nicht der meiner Vorstellung von dem grossen,
vollwertigen Individuum, welches auf der
Menschheit Höhen wandelnd seinen Grenzen
nahe kommt. Ich sah in München auch die

Seite 5

II.

Fürstin Oettingen(2), deren Empfindungen den
meinen ähnlich waren. Ich glaube, Sie werden
es richtig finden, wenn ich meiner Ansicht
Ihnen gegenüber unverholen Ausdruck gebe,
und Sie können sicher sein, das die wahre
Freude an einigen wirklich grossen und schönen
Schöpfungen immer alle anderen Eindrücke
weit zurückgedrängt und dass ich also ihr [Ihr]
Geschenk mit immer neuer Freude wahrhaft
geniesse. Nochmals sage ich Ihnen meinen
herzlichsten Dank dafür.

Es thut mir sehr leid zu hören, dass der Ent-
stehung der Brunnenfigur Schwierigkeiten
entgegenstehen, die ich schon immer befürchtet
hatte. Es wird nicht leicht sein, eine Einigung

Seite 6

zu erreichen, da zwischen Ihnen und meinem
Vater auf künstlerischem Gebiet jede Brücke fehlt,
zumal fast 50 Jahre unsere Zeit von der
seinen trennt und er prinzipiell seinen
Standpunkt nicht verlassen will. Wie gesagt
fürchtete ich das immer und zögerte deshalb
auch lange vor der Vermittlung des Auftrags(3).
Ich kann jetzt, da ich auch in meinen
Anschauungen ziemlich stark mit meinem
Vater differiere, nichts weiter thun, als Ihnen
raten: Lassen Sie sich die Mühe nicht verdriessen,
mein Vater lässt sich überreden, vor allem, wenn
man seine moralischen Anschauungen, auch ohne
sie zu teilen, berücksichtigt und alles zu Un-
bekleidete vermeidet, denn das ist der einzige

Seite 7

Punkt, auf den ich nicht hoffen kann, dass er
nachgeben wird. Sollte sich dieses vorbereitende
Stadium bis zum Juli hinziehen, so könnte
ich vielleicht noch etwas helfen, da ich am
Anfang Juli nach Schlesien reisen will.

Ich schließe heute mit der Bitte, mich ihrer
Gemahlin unbekannter Weise zu empfehlen, und
würde sehr gern erfahren, was Sie arbeiten
und wie Sie eigentlich leben. Haben Sie ein gutes
Atelier? Studiert Ihre Gemahlin weiter? Haben
Sie sonst irgend einen Auftrag? Haben Sie etwas
verkauft oder ausgestellt? etc.

Meine Frau grüßt bestens und ich bleibe immer
Ihr freundschaftlichst Ihr

H. A. Grf. Harrach.

[Beilage: Seidlitz an Harrach]

Dresden, 6. Aug. 98

Sehr geehrter Herr Graf!

Wie ich Ihrem Brief
entnehme, wollen Sie sich
dafür verwenden, daß Kolbe
das Berliner Stipendium
bekomme. Auf Grund Ihrer
Angaben über ihn werde ich
mich nun in Dresden da-
nach erkundigen, welche
Aussichten er hat. Ich fürchte
freilich, daß es dort nur
Stipendien für ehemalige

Seite 2

Schüler der Akademie geben
wird. Jedenfalls aber
werde ich nicht verfehlen,
Ihnen Mittheilung zukom-
men zu lassen, sobald ich
etwas erfahren habe.

In vollkommener Hochachtung
Ihr
ergebener
Seidlitz

Anmerkungen

  1. Werke Georg Kolbes, Faust-Zyklus, bestehend aus 23 Farblithographien, erschienen 1902.

  2. Maria Fürstin zu Oettingen-Wallerstein, Person im Umkreis Kolbes, ohne weitere Angabe

  3. Werk Georg Kolbes, Badende (Brunnenfigur für Ferdinand Graf Harrach), 1902, s. Hermann Schmitt: Georg Kolbe, in: Zeitschrift für Bildende Kunst, Januar 1904, S. 81 f., Abb. S. 82