Transkription

Leipzig am 22./10.1903

Mein lieber Freund!

Deine Schrift mit Brief habe ich erhalten
und mehr als einmal durchgelesen.
Ich will heute nicht gleich auf den
he Aufsatz eingehen, sondern vielmehr
erst abwarten, was Seemann(1) dazu
sagt. Aber danken will ich Dir heute,
von Herzen danken für Deine
Mühe, die Du Dir um mich machtest,
daß Du Dich so aufopfertest, um
meine Arbeiten, die, wer will es
heute sagen? wie viel oder wie wenig
wert sind? Ich danke dem Schicksal,
daß es mir einen solchen Freund wie
Dich schenkte, denn nur in solchen

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Augen wie den Deinen kann
mir etwas Gerechtigkeit widerfahren.
Im Ganzen gehört ja unendlich guter
Wille dazu, sich mit meinen ganz
unvollkommenen Arbeits-Resultaten
S so eingehend zu beschäftigen.

Es ist ja darum selbstverständlich, daß
ich Deine Hilfe brauche.

Sprich mir ni nicht von dem Berufs-
kritiker! Freilich schreibt er ganzanders
als Du, aber auch unendlich viel
leichtsinniger. Wenn es sich, wie Du
selbst aussprichst, um ein ernstes
Streben bei mir handelt, so kann dem
ja doch nur Gerechtigkeit werden durch
eine ernste Besprechung. Nichtwahr?

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Wer giebt die aber? Nur ein Freund,
niemals ein Berufskritiker.

Also sollst Du mir den nicht aufhalsen
wollen. Du schreibst so wie ich male –
der Wille ist wertvoll; jedenfalls
habe ich den Wunsch, nur in ähnlicher
Weise wie von Dir besprochen zu werden.

Noch kein Mensch wie Du hat gesehen, was
ich mit dem „Faust“ sagen will –

Lieber Freund, Dein Aufsatz ist zu lang,
ich glaube sogar um die Hälfte, das heißt
für den Druck, den Seemann im Auge
hatte – aber auch wenn Deine Arbeit
nicht gleich gedruckt werden sollte, so ist mir
dieser Weg doch noch lieber als wenn irgend
jem jemand ein paar Zeilen jetzt
für über mich geschrieben hätte, die dann
Seemann erscheinen ließe.

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Warten wir aber ab, was der Mann
sagt. Ich gebe Dir dann gleich Nachricht,
vielleicht, daß ich mich heute oder später
selbst an die „Kunst für Alle(2)“ wende,
eben mit Deinem Aufsatz und mit
Abbildungen meiner Arbeiten.

Die Zeit eilt ja nicht sehr. Der Entwurf ist
da, Du kannst ihn wieder durchsehen,
wenn Du willst, und ich werde Dir
dann auch noch meine Ansicht über den
Aufsatz sagen. Es ist mir ganz recht, daß
Du Dich nicht an einzelne Arbeiten
gehalten, hes sondern meine Thätigkeit
im Ganzen beleuchtet hast. Ganz so
dachte ich mir die Sache – Meine Arbeiten
sind noch viel zu unreif als daß man
das Bedürfnis hätte, sie ganz erläutert zu
bekommen.

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II

Du fragst, wie es uns geht? Du hättest
lange nichts über uns gehört! Was
hören wir denn von Euch? Du schreibst
ja nie etwas Weiteres darüber?

Leonore(3) ist ganz vorzüglich jetzt. Sie
hat bereits einen Zahn und ist seit
diesem Tage wie umgewandelt.
Unsere Freude über das Kind ist
wirklich groß. Meine Frau fängt
auch an, wieder kräftiger zu werden,
und es bleibt kein Wunsch
als – Geld – , sei es in
Form von Aufträgen oder daß
mir die Glücksgöttin ohne große
Umstände etwas in den Schoß
werfwerfe, ganz einerlei!

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Tuch(4) ist gestern das erstemal hier
gewesen. Er ist noch der Alte, Arbeiten
hat er noch nicht mit, auf diese bin
ich ja sehr begierig, denn er glaubt
selbst, eine Umwandlung
erlitten zu haben.

Ich denke, er wendet sich nächstens
einmal an Dich wegen des
Bruders Hettner(5)’s. Er hat jetzt kaum
das nötigste Geld und muß sich
nun erst hier einrichten.

Lebewohl, lieber Freund –

Kommst Du wohl vor Weihnacht
noch einmal? Kannst Du nicht
Deine Frau mitbringen?

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Seid beide herzlichst gegrüßt
von uns.

Dein treuer Kolbe.

Anmerkungen

  1. Artur Seemann (30.11.1861, Reudnitz bei Leipzig – 23.12.1925, Meran) übernahm 1899 den Verlag seines Vaters Ernst Arthur Seemann. Herausgeber der Zeitschrift für bildende Kunst, in der 1904 ein wichtiger Beitrag von Hermann Schmitt über den jungen Kolbe erschien.

    http://d-nb.info/gnd/107458055
  2. Kunstzeitschrift, hg. von der Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft,vormals Friedrich Bruckmann, München, erschienen ab 1885

    http://d-nb.info/01261386X
  3. Leonore, Tochter Georg Kolbes (19. 11.1902, Leipzig - 28.06.1981, Berlin)

  4. Tuch, Kurt (27.5.1877, Leipzig – 23.11.1963, Muri, Kanton Aargau, Schweiz),  deutscher Maler und Graphiker

    http://d-nb.info/gnd/11743339X
  5. Hettner, (Hermann) Otto (27.1.1875, Dresden – 19.4.1931, ebd.), Maler und Bildhauer

    http://d-nb.info/gnd/116779276