Transkription

Sonntag am 3./ 5. 1903

Lieber Freund!

Ihnen und Ihrer Frau unsere herzlichsten
Grüße. Wir nehmen vollen Anteil
an dem Mißgeschick, welches Ihr
junges Eheglück abermals betroffen
hat. Vielleicht verhindert nun dieser
Vorfall au auch, daß ich Ihre Frau sehen
kann, wenn ich nächstens nach
Dresden kommen werde? Doch es ist
noch einige Zeit bis dahin und dann
auch noch Hoffnung zu baldiger
Besserung vorhanden. Einstweilen
besitzen wir ja das Bild, welches Sie
uns freundlichst sandten, und wofür
wir besonders danken. Ich denke, ich
kann Ihnen auch bald ein Bild
der Leonore(1) senden, heute sind im
Atelier verschiedene Aufnahmen

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gemacht worden. Freilich, viel Hoffnung
auf gute Wiedergabe haben wir nicht,
denn Leonore war garnicht brav.

Doch nun zu Blake(2), dessen Hiob mir
sehr, sehr gefällt wie auch meiner
Frau. Solche Größe wünschte ich meinem
Faust; Beseelt war ich wohl nicht weniger
wie Blake, doch welch’ armer zersplitterter
Mensch bin ich daneben; überhaupt
wir M Modernen alle.

Beim ersten Durchblättern ließ mich das
Werk noch einwenig kühl, wie es uns
immer bangend vorkommt,
wenn man vor unbehilflichen älteren
Arbeiten steht. Doch die Freiheit strömte
mir bald aus jedem Striche entgegen,
und ich finde das Werk ganz herrlich,

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der fürwahr patriarchalische Zug, der
durch sämtliche Blätter geht!

Ich will Ihnen doch die Benennung
einzelner Seiten derjenigen Zeichnungen
angeben, welche mir am meisten sagen:

da ist No. 1, 2, 7, 9, 10, 12, 13, ganz
besonders 1 u. 2 u. 10, dann ganz herrlich
ist Blatt 14 mit den vier Engeln;
auch No. 19, und den Vorzug vor allen
gebe ich 20 und 21. Die Blätter haben
eine Größe wie sich s auf mich Michelangelo(3)’s
Compositionen wirken.

Und was mir besonders an dem ganzen
Werk sympathisch ist, daß aller Ausdruck
mit Menschenmaterial erreicht ist und nicht
wie heute ein gutes Werk als Amor u. Psyche
von Klinger(4), wo mit Naturstimmung
so viel abgethan wird.

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Ich selbst gebe mich ja der leichteren Aufgabe hin,
daß ich durch Landschaft und Natur mit
zu wirken suche. Goethe schuf nur
Menschen, wenigstens hauptsächlich.

Doch genug hiervon. Lieber Freund,
das Buch war mir eine große Freude –
ich sende es Ihnen bald zurück oder
bringe es selbst mit nach Dresden.

Bis dahin grüße ich Sie nochmals
herzlichst als {Ihr} Freund
Kolbe

Wie hieß doch das Hôtel in Berlin, welches Sie
mir einst empfahlen; Sie wissen, in der Nähe
des Anhalter Bahnhofes; ich glaube, es war
Hôtel „Westend“ od. ähnlich.

Anmerkungen

  1. Leonore, Tochter Georg Kolbes (19. 11.1902, Leipzig - 28.06.1981, Berlin)

  2. Blake, William (28.11.1757, London – 12.8.1827, ebd.), Dichter, Maler und Druckgraphiker, hier: Die Prüfung des Hiob

    http://d-nb./info/gnd/118511513
  3. Michelangelo Buonarroti (6.3.1475, Caprese – 18.2.1564, Rom), Maler, Bildhauer, Baumeister, Dichter

    http://d-nb.info/gnd/118582143
  4. Klinger, Max (18.02.1857, Leipzig – 04.07.1920, Großjena), Künstler, Maler, Radierer, Grafiker, Bildhauer

    http://d-nb.info/gnd/118563335