Transkription

(Grunewald-Berlin, Cronberger Straße 7—9)
5.XI.30

Lieber Herr Professor,
ganz durch Zufall sah ich in einer Zeitung, die
mir geschickt wurde – u. zwar merkwürdigerweise erst
gestern aus Bayern zu mir kam, dieses Bild. Es war
das Erste, was ich von dem Brunnen(1) hörte. Und nun
danke ich Ihnen herzlich für die Photographien.
In den allernächsten Tagen fahre ich hin.

Erschüttert hat mich das Relief meines
Vaters(2)
, das schon auf der Photographie – so absolut
er selbst, in seinem lebendig geschauten Aus-
druck – ein Meisterwerk ist. Walther(3) schien mir
im Gegensatz zu ihm beinahe zum Symbol ent-
rückt. Tätiges Leben – prophetische Schau und

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schmerzvollstes Erleiden, sagte es in mir.
Seltsam schön, wie dieser Brunnen in der
Landschaft steht.

Haben Sie Dank für Ihr Schenken – und
Ihren Gruß.

Sie und vor allem Ben(4) sind so innig
verwoben mit allem, was Jugend war, und
es vergeht selten ein Tag, wo ich nicht an
sie denke in ihrer strahlenhaften, ewig
jungen Geistigkeit.

Irgend ein Leuchten aus anderen
Welten lag in ihren Augen.

Ich grüße Sie herzlich und drücke
Ihnen die Hand.

Edith Andreae

Anmerkungen

  1. Rathenau-Brunnen, Werk Georg Kolbes, 1928-1930, 1934 von den Nationalsozialisten entfernt, 1941 für die Schiller-Figur im Schillerpark eingeschmolzen.

  2. Relief von Emil Rathenau, Teil der Brunnenanlage des Rathenau-Brunnens, Werk Georg Kolbes, 1928-1929

  3. Rathenau, Walther (29.9.1867, Berlin – 24.6.1922, ermordet, Berlin-Grunewald), Industrieller, Politiker, Schriftsteller, ab 31.1. 1922 Reichsaußenminister, hier: Relief von Walther Rathenau, Teil der Brunnenanlage des Rathenau-Brunnens, Werk Georg Kolbes, 1928-1929

  4. Kolbe, Benjamine, geborene van der Meer de Walcheren (5.8.1881, Utrecht – 7.2.1927, Berlin), Sängerin, Ehefrau Georg Kolbes ab 1902

    http://d-nb.info/gnd/136324509